Kinderstation
Bramcke glücklich und giftig zugleich. »Er erkennt wieder seine Umwelt.«
Eine Röntgenuntersuchung – wieder sprühte Wollenreiter Bruno mit Äther an – bewies, daß die eingesetzten Kunststoffadern prächtig funktionierten, das Hirn normal durchblutet wurde und die Aderstücke nicht abgestoßen wurden.
»In zehn Tagen geht es los«, sagte Oberarzt Dr. Julius zu Renate Vosshardt. »Wir werden Zeit genug haben, die Zwillinge darauf vorzubereiten. Vor allem kräftigende Kost, Ruhe und auf den Kreislauf achten. Wollenreiter soll sich weniger um Lisa kümmern und sein Bett neben den Zwillingen aufschlagen. Und dann, mein Mädchen«, er legte den Arm um Renate und küßte sie auf die Schläfe, »dann heiraten wir endlich.«
»Wenn nicht wieder Siamesen dazwischenkommen.«
»Nach der Statistik dürfte das nicht der Fall sein.«
»Bei uns ist alles möglich – ich wundere mich über gar nichts mehr.«
In diese zehn Tage Vorbereitungszeit fielen zwei Ereignisse, die nur deshalb nicht eine Sensation wurden, weil alles in der Klinik ›Bethlehem‹ von der Trennung der Zwillinge sprach. Prof. Karchow war geschickt genug, durch Mittelsmänner der Presse einen Wink zu geben … noch bevor der endgültige Termin der Operation überhaupt feststand, sprach man überall davon und brachten die Zeitungen Artikel ihrer ›Ärztlichen Mitarbeiter‹.
Über Vater Philipp Lehmmacher ergoß sich ein warmer Regen. Er wurde wieder Mittelpunkt der Wochenzeitungen, bekam Pakete und Geldspenden, wurde Ehrenmitglied eines ›Clubs der Väter, von denen man spricht‹, durfte vier Gärten prominenter Bürger der Stadt betreuen und gab – etwas schamhaft allerdings – bekannt, daß seine Frau Erna bereits wieder guter Hoffnung sei. Frische Luft macht eben kräftig.
Auf die Frage, was er machen würde, wenn er wieder Vierlinge bekäme, wußte er keine Antwort. Er wagte gar nicht, an diese Möglichkeit zu denken.
In diesen Zwillingsrummel hinein kamen die beiden schon erwähnten Ereignisse:
Fräulein Helga Honnemann, die Mutter mit dem Negerkind, kam in die Klinik und legte Dr. Wollenreiter ihr Kind auf den Untersuchungstisch.
»Sehen Sie sich das mal an, Herr Doktor«, sagte sie ratlos. »Das Kind wird immer heller! Aber der Vater ist ein echter Neger. Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu. Mein kleiner Roland muß doch krank sein! Er verliert seine Farbe!«
Einen Tag später wurde die kleine Tochter Maria der Eheleute Höllerer in die Klinik ›Bethlehem‹ eingeliefert. Sie hatte eine hochfiebrige Masernerkrankung, und da sie mit ihren Eltern nur zu Besuch in der Stadt war, mußte sie in die Klinik aufgenommen werden. Dr. Renate Vosshardt schrieb auf die Fiebertabelle: Maria Höllerer. Morbilli.
Dieser ungewollten Rückkehr von Maria Ignotus nach ›Bethlehem‹ ging ein großer innerer Konflikt voraus.
Buchhalter Ernst Bergmann war vor zwei Monaten von München zurück in seine alte Heimatstadt gezogen. Er fand in München nicht die ihm zusagende Stellung, er kam mit der bayerischen Sprache nicht zurecht, und als ihn einmal eine Tischrunde in einer Bierhalle einen ›Saupreißen, einen dreckerten‹ nannte, beschloß er, als Preuße zurück nach Preußen zu ziehen.
In seiner Heimatstadt fand er sofort seinen Posten bei dem Steuerberater wieder, schloß die alten Freunde vom Kriegsverein in seine Arme und kam sich vor wie ein heimgekehrter verlorener Sohn.
Nun hatten ihn Julia und Franz mit dem Kind besucht, und eines Morgens lag die kleine Maria fiebernd im Bett, fantasierte und glühte. Der Hausarzt stellte Masern fest, und zwar in einer sehr akuten Form. Er riet, Maria in die Kinderklinik zu bringen.
Den ganzen Tag über waren sich Julia und Franz uneinig, ob sie den Rat befolgen sollten. Schließlich siegte die Sorge um das Kind.
»Sie werden es nicht wiedererkennen«, sagte Franz Höllerer. »Erstens sieht es jetzt ganz anders aus als damals als Säugling, und zweitens haben die den ganzen Fall längst vergessen. Ich habe da gar keine Sorge –«
»Und wenn sie es doch entdecken?« stammelte Julia.
»Unmöglich! In dem Jahr sind Hunderte Kinder durch die Klinik gegangen … wenn die jedes Kind darauf untersuchen wollten, ob es das entführte ist – ich sage dir, es ist unmöglich!«
So kam Maria Ignotus auf Station IIa – Isolierstation – und in die Pflege des neuen Stationsarztes Dr. Hansmann, der für Dr. Petschawar eingetreten war. Sie wurde ein Kind wie hundert andere, bekam eine Karteikarte, eine
Weitere Kostenlose Bücher