Kinderstation
Fiebertabelle, eine Krankengeschichte. Routinemäßig besuchte sie Dr. Julius, wenn der Chef die Visite nicht wahrnehmen konnte.
Am fünften Tag traf Julia auf dem Flur mit Dr. Wollenreiter zusammen. Sie sahen sich an und erkannten sich sofort. Wollenreiter blieb stehen.
»Gnädige Frau –«, sagte er verblüfft. »Ist wieder ein Kind zur Adoption bei uns?«
»Wieso?« stotterte Julia verwirrt.
»Als wir uns das letztemal sprachen, waren Sie doch mit Ihrem Herrn Vater hier, um unsere arme Maria Ignotus zu besichtigen. Ein paar Tage später … na, Sie wissen ja!« Dr. Wollenreiter wurde in Erinnerung an diese Stunden blaß.
»Ich habe jetzt ein eigenes Kind hier –«, sagte Julia leise.
»Ach. Was fehlt ihm denn?«
»Masern. Sehr fiebrig. Auf Station IIa –«
»Machen Sie sich keine Sorgen, gnädige Frau.« Dr. Wollenreiter lächelte begütigend. »Masern sind nicht gefährlich. Wir werden Ihren kleinen Liebling kerngesund machen.«
Er verabschiedete sich und lief weiter.
Erst am nächsten Tag erinnerte er sich an die Begegnung mit der jungen Frau, und da er gerade eine freie Stunde hatte, fuhr er zu Station IIa, um sich das Morbilli-Kind einmal anzusehen. Ohne Argwohn, ohne Grund, vielleicht nur darum, um zu sehen, ob das Kind Ähnlichkeit mit seiner hübschen, jungen Mutter habe.
Er kam gerade ins Zimmer, als Dr. Hansmann am Bettchen saß und die Rötungen auf dem Rücken untersuchte. Maria hatte die Ärmchen hochgestreckt und sah dem neuen Onkel im weißen Kittel ängstlich entgegen.
Große, blaue Augen hat sie wie die Mutter, dachte Dr. Wollenreiter. Aber die süße Stupsnase ist nicht von ihr. Und dann sah er plötzlich den kleinen Leberfleck unterm Arm und zuckte zusammen wie unter einem elektrischen Schlag.
»Herr Kollege, lassen Sie mal die Arme oben«, rief er und rannte ans Bett. Maria zog erschrocken das Köpfchen zwischen die Schultern. Auch Dr. Hansmann blickte sich verwundert um.
Dr. Wollenreiter beugte sich über die Gitter des Bettchens und legte seinen Zeigefinger auf den Leberfleck. »Was ist das?« fragte er mit belegter Stimme.
Dr. Hansmann sah Wollenreiter schief an. »Ein Naevus pigmentosus«, sagte er mokant.
»Nein! Ein Erkennungszeichen! Wie heißt das Kind?« Wollenreiter riß die Fiebertabelle vom Bettende. »Maria Höllerer! Maria! Ich hatte es im Gefühl! Sie ist es! Sie ist es!« Er warf die Fiebertabelle hoch in die Luft und rannte aus dem Zimmer. Maria Ignotus verzog den Mund, als wolle sie weinen. Dr. Hansmann streichelte ihr über die Wangen.
»Das war ein lustiger Onkel Doktor, was?« sagte er tröstend. »Wollte mit dem Blättchen Flugzeug spielen.«
Er legte das Kind zurück, deckte es zu und ging hinaus. Auf dem Flur begegnete ihm die Stationsschwester.
»Haben Sie Wollenreiter gesehen?« fragte er.
»Er rannte an mir vorbei wie ein Verrückter.« Die Ordensschwester schüttelte den Kopf. »›Sie ist es!‹ hat er dabei gerufen.«
»Ganz normal ist er nicht.« Dr. Hansmann ging nachdenklich weiter. »Was hat er bloß mit diesem dummen kleinen Leberfleck?« sagte er leise zu sich selbst.
Dr. Wollenreiter war nicht aufzuhalten, er glich in diesen Augenblicken einem Taifun. Wie ein ausgebrochener Irrer stürzte er in das Zimmer Dr. Julius', der gerade seine Braut Renate küßte.
»Aufhören mit Knutschen«, schrie Wollenreiter. »Sie ist wieder da! Auf IIa! Sie hat die Masern!«
»Wer ist wieder da?« Dr. Julius starrte Wollenreiter an.
»Meine Maria Ignotus –«
Wollenreiter ließ sich in einen Sessel fallen und wischte sich den Schweiß vom Gesicht.
»Sie hat den süßen kleinen Leberfleck unterm Arm … sie ist es bestimmt –«
»Sagen Sie mal, Wollenreiter, sind Sie übergeschnappt?« sagte Dr. Julius laut. »Oder haben Sie einen getrunken?«
»Kommen Sie mit«, schrie Wollenreiter. »Auf Zimmer 2 von IIa liegt sie! Sie heißt Maria Höllerer! Maria! Merken Sie was? Ich lasse mich fressen, wenn sie es nicht ist!«
»Es wird sich niemand finden, der Sie schwer verdaubaren Klumpen auffressen wird!«
»Julius, lassen Sie jetzt alle Sarkasmen, bitte! Wo ist der Chef? Er kennt den Leberfleck auch! Man hat Maria Ignotus gebracht, weil es nicht anders mehr ging! Und ich …« Wollenreiter zuckte aus dem Sessel hoch.
»Was haben Sie denn nun schon wieder?« fragte Dr. Julius.
»Ich kenne die leibliche Mutter! O ich Idiot! Ich Idiot! Julius, knallen Sie mir eine runter!«
»Ich hätte große Lust, es zu tun!«
»Sie hatten damals recht – die
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