Kindersucher - Kriminalroman
dann ... ein Eiswagen! Mein Gott! Kraus war fast die Luft weggeblieben, als er das gehört hatte. Er hatte sich die ganze Zeit gefragt, wie es der Hirtin gelingen konnte, so viele Jungen von den Straßen Berlins wegzulocken und sie zu entführen, ohne dass sie gesehen wurde. Wie bösartig brillant sie war, das wurde ihm jetzt klar. Er stellte sie sich in einer sauberen, weißen Uniform vor, wie sie den Jungen einen Köder hinhielt, dem die unmöglich widerstehen konnten. »Willst du mal einen Blick in den Eiswagen werfen? Hier herein, mein Junge.« Dann schloss sie die Tür zu. Und das war das Letzte, was man von diesen Kindern sah ... bis sie als Handtaschen oder Lampenschirme wieder auftauchten.
Außerdem war es nun auch nicht mehr verwunderlich, warum diese Köhlers so schwer zu finden waren. Sie hatten ihren unterirdischen Bau mit einer unterirdischen Zufahrt ausgestattet.
Man konnte wirklich nicht behaupten, dass sie nicht erfinderisch gewesen wären.
Adrenalin strömte durch Kraus’ Adern. Jetzt hatten sie die Lösung.
Die Zeit des Handelns war gekommen.
Ein koordinierter Angriff. Gruppe Eins einschließlich Kraus, Gunther, den Ingenieuren der Wasserwerke Rollmann und Eberhard, Wörner von der Abendzeitung und einer vier Mann starken Truppe der Schutzpolizei ging um siebzehn Uhr fünfundvierzig durch die Abwässerkanäle hinein. Gruppe Zwei, eine Abteilung, die nur aus Schupos bestand, umstellte das ganze Gelände und betrat dann die unterirdische Zufahrt über die Düngerfabrik eine Viertelstunde später. Auf diese Weise wollten sie Magda jeglichen Fluchtweg abschneiden und außerdem für Verstärkung sorgen, falls es Schwierigkeiten gab. Kraus wollte nur sichergehen, dass er der Erste war, der in Köhlers Bau eindrang und Magdas Gefangennahme überwachte. Er hatte das Gefühl, dass es für ihn persönlich wichtig war, sie unverletzt in die Hände zu bekommen.
Sie gingen über die lange Wendeltreppe bis zum Erdgeschoss des Pumpenhauses, vorbei an den fünf 84 PS starken Generatoren, die das Hydrauliksystem des Viehhofs speisten. Die gigantischen Turbinen surrten und die Kolben zischten, während sie maximalen Druck aufbauten, damit die Abfälle selbst aus den kleinsten und entlegensten Nischen und Ecken gespritzt werden konnten.
Die neun Männer von Gruppe A betraten eine weitere lange Treppe durch eine Tür mit der Aufschrift »Zutritt für Unbefugte verboten« und stiegen hinab. Kraus atmete flacher, während die Luft immer stickiger und schwerer wurde. Am Fuß der Treppe blockierte ein schmiedeeisernes Tor ihren Weg. Während Rollmann es öffnete, warf Kraus einen Blick aufseine Armbanduhr. Es war genau siebzehn Uhr fünfundvierzig.
Er wusste, dass jetzt vier Millionen Menschen in Berlin ihrem ganz normalen Tagwerk nachgingen. Vor dem Kriegerdenkmal Unter den Linden absolvierten Soldaten im Stechschritt die letzte Wachablösung vor Hunderten von klickenden Kameras. In unmittelbarer Nähe, im prachtvollen Hotel Adlon, schlürften die Gäste ihre Cocktails. Auf der Spree dampften Kohlenschiffe am Königspalast vorbei. Und auf dem Flughafen Tempelhof glitten silbern glänzende Flugzeuge an dem Terminal vorüber. Auf der Kochstraße beeilten sich wie jeden Abend die miteinander wetteifernden Zeitungen, die Spätausgaben herauszubringen, vor allem, da es nur noch eine Woche bis zu den Wahlen war. Und während die Gäste ein paar Wohnblocks weiter nördlich bei Lutter & Wegner Schnitzel aßen, strömten Gläubige gegenüber zum Abendgottesdienst in die französische Kathedrale oder in die nahegelegene Hedwigkirche oder in die Synagoge in der Oranienburger Straße.
FÜNFUNDZWANZIG
Ein dämmriges, gedrungenes Universum aus Ziegelsteinen.
Himmel und Horizont verschwanden; die Gewölbedecke über ihren Köpfen wirkte wie die einer mittelalterlichen Burg und war kaum hoch genug, dass man darunter stehen konnte. Durch die Mitte floss, flankiert von schmalen Gehwegen und kaum wahrnehmbar, ein schmaler Strom von Wasser. Schwarz und stumm. In größeren Abständen spiegelten sich Glühlampen auf glatten Oberflächen. Kalt, feucht und ruhig. Eine klaustrophobische Katakombe, die sich ins Nichts verjüngte.
Überlaufkanal fünf.
Ziegelbogen um Ziegelbogen lockte die neun Mann starke Gruppe immer tiefer in diese bedrückende Unterwelt, in der jeder Schritt ein Echo erzeugte. Selbst Kraus’ Herzschlag schien von den runden Wänden widerzuhallen. Und waren das nicht seine Ängste, die durch die Gullys tropften?
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