Kindersucher - Kriminalroman
Wenn Magda jetzt gewarnt worden war? Wenn sie Berlin schon längst verlassen hatte? Wenn er sich vollkommen geirrt hatte, was dieses unterirdische Verlies anging? Es konnte ja sein, dass Wörner ihm wohlgesinnt war, aber wenn Kraus auf diese Weise scheiterte, würde er es zweifellos auf sämtliche Titelseiten schaffen.
Eine große braune Ratte huschte über seinen Fuß. Er hatte es damals in den Schützengräben gelernt, ihre glatten, glitschigen Schwänze und ihre harten, spitzen Krallen zu ertragen. Aber der Zeitungsmann hinter ihm stieß einen Schrei aus, dessen Echo ohne Ende durch den Tunnel zu hallen schien.
Ein Zulauf auf der linken Seite speiste noch mehr Wasser in den langsam fließenden Strom ein. Es hatte ein paar Wochen nicht geregnet; aber die Flut letzten Oktober hatte diesen Tunnelvollkommen ausgefüllt, wie Eberhard mit seiner Taschenlampe zeigte.
Eine dünne Schlammkruste klebte immer noch an der Decke.
Kraus’ Brustkorb schien sich zusammenzuziehen. Wenn das erneut passierte, während sie hier waren ... er sah sich um: Es gäbe keinerlei Entkommen.
Bilder stiegen Kraus in den Kopf. Jutesäcke, die durch Stromschnellen sausten, weiße Knochen, die aneinander klapperten. Axel, der weinte, als er kopfüber in die Luft gerissen wurde.
War das wirklich erst ein paar Stunden her?
Übelkeit durchströmte ihn, und er schüttelte sich.
Plötzlich hatte er das Gefühl, er müsste die Mauern, die Decke zurückstoßen. Alles, was ihn bedrängte. Er musste seinen Knien befehlen, nicht nachzugeben. Sie fühlten sich an wie Gummi, wie die des armen Pastors Braunschweig, möge er in Frieden ruhen. Eine absurde Furcht zuckte durch seine Innereien, so als wollte etwas seine Knöchel packen und ihn unter Wasser ziehen. Er würde seine Frau und seine Kinder nie wiedersehen.
Kraus zwang sich, an die Zukunft zu denken. Er durfte jetzt nicht zaudern. Magda war irgendwo direkt vor ihnen. Eine Frau, die von ihrem Vater vergewaltigt und gefoltert worden war, der ihr ein Baby gemacht hatte, das er wie ein Lamm geschlachtet hatte, und die schließlich selbst zu einem mörderischen Monster herangewachsen war. Zweifellos würde sie ihm einen wütenden Kampf mit einem Schlachtmesser liefern. Wahrscheinlich ist sie sogar äußerst geschickt im Umgang damit, ermahnte er sich. Immerhin waren die Köhler-Kinder von einem wahren Meister unterrichtet worden.
Man konnte ihre Entschlossenheit gar nicht überschätzen.
Kraus konzentrierte sich darauf, einen Fuß vor den anderenzu setzen, ignorierte die Ratten, die Mauern, das Wasser und suchte mit der Nase das bisschen frische Luft, das er finden konnte. Einen Moment lang stellte er sich diese drei Kinder vor, wie sie allein in diesem unterirdischen Verlies saßen. Tagelang. Beinahe erstickt von dem Gestank. Ihr eigener Vater, der Mann, der sie ernähren und beschützen sollte, drohte, sie bei lebendigem Leib zu häuten und sie dann zu fressen. Was konnte ein Vater einem Kind Schlimmeres antun?
Und Bruno Köhler – was musste sein Vater ihm angetan haben?
»Hier herein.« Eberhard deutete mit dem Lichtstrahl seiner Taschenlampe auf einen Zulauf. »Zulaufrohr J, direkt unter dem Keller der alten Brauerei.«
Kraus verspürte den Drang, dem Kerl eins auf die Nase zu geben. All die Karten, die er ihnen oben gezeigt hatte, hatten nicht ahnen lassen, wie eng es hier unten war und wie wenig Luft es gab. Doch Überlaufkanal Fünf war im Vergleich zum Zulaufrohr J der reinste Grand Canyon.
Kraus sog so viel Luft in seine Lungen wie er konnte und bückte sich.
Während er geduckt weiterging, kam er sich vor wie ein Höhlenmensch. Nach einer Weile merkte er, dass seine Fingerknöchel über den Boden schabten, so als hätten sie sich zu Schimpansen zurückentwickelt. Was kam als Nächstes? Schnecken auf dem Boden des Abwasserkanals?
»Mann, hoffentlich ruiniert mir das hier nicht meine Kamera«, stöhnte Wörner.
Einer der Polizisten verlor die Beherrschung. »Ich kann nicht atmen«, hörten sie am Ende der Reihe. »Mein Gott, holt mich hier raus!«
»Du schaffst das schon«, versuchte ein anderer Beamter ihn zu beruhigen. »Hol tief Luft und atme ruhig weiter. Wir sind gleich da.«
Kraus befolgte diesen Rat ebenfalls.
Aber was war mit den Gullys 27–29 passiert, die die alte Brauerei entwässert hatten? Angeblich sollten sie sich irgendwo hier über ihren Schultern befinden und durch das Lösen von ein paar Schrauben leicht zu öffnen sein. Plötzlich schienen Eberhard und
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