Kindersucher
dieses luftige Idyll war nicht gegen den politischen Wirbelwind gefeit, der Deutschlands Hauptstadt zurzeit durchschüttelte. Je näher die Wahlen kamen, desto mehr hatte sich die Atmosphäre aufgeladen. Es verging kaum ein Tag ohne blutige Zusammenstöße zwischen Nazis und Kommunisten irgendwo in Berlin. Und Kraus hatte das Gefühl, dass diese explosive Mischung sich auch genau hier zusammenbraute. Nicht einmal ein Tag am Strand konnte die Leute dazu bringen, Politik für kurze Zeit beiseitezulassen. Abzeichen, Anstecknadeln und Marken waren an Hüten und selbst an Badeanzügen befestigt. Er hatte zuvor bemerkt, dass das gesamte Personal rote Halstücher trug. Die Kunden im Restaurant dagegen waren fast ausnahmslos Braunhemden. Und etliche von ihnen scharten sich jetzt um jemanden, der am Boden lag, und traten ihn brutal mit Füßen.
In den wenigen Sekunden, die Kraus brauchte, um sich die Jungs zu schnappen, kündigte sich durch gellende Trillerpfeifen Verstärkung an, sowohl von Seiten der Roten als auch der Braunen. Sie kamen aus allen möglichen Richtungen herangestürmt. Ein ausgewachsener Aufruhr brach los. Stühle flogen durch die Luft, Köpfe bluteten. Auf der Treppe hinauf zur Straße musste Kraus Vicki und die Jungs ans Geländer drücken, als eine kleine Gruppe der Sturmabteilung an ihnen vorbeitrampelte. Ihre braunen Stiefel knallten über die Stufen. Später in der Beckmannstraße hörten sie im Radio, dass die Kämpfe am Wannsee vier Stunden gedauert und sich sogar bis auf die S-Bahn in die Stadt ausgedehnt hatten. Sie waren keinen Moment zu früh verschwunden. Dutzende Menschen waren verletzt worden, darunter auch unschuldige Zuschauer in S-Bahn-Zügen, die sich ja nirgendwo verstecken konnten.
In dieser Nacht träumte Kraus, er und seine Familie wären auf einem Ozeandampfer und führen weit weg, irgendwohin.
Grubers Büro lag im ersten Gebäude auf der rechten Seite, direkt hinter dem Haupteingang in der Eldanerstraße. Die getäfelten Wände waren mit Widmungen und Fotos von Würdenträgern gepflastert, die den Centralvieh- und Schlachthof besucht hatten. Der massige Direktor hatte das schmeichlerische Gehabe abgelegt, das er noch während der Listeria- Krise gezeigt hatte. Offenbar sah er im Moment keinen Anlass mehr für Speichelleckerei.
»Das mag ja alles sein.« Schon der schiefgezogene bleistiftdünne Schnurrbart unterstrich seine Feindseligkeit. Kraus war für ihn ein Spielverderber, der den Ruf seiner geliebten Institution beschmutzen wollte ... und zwar mit einer Bande von Kriminellen, gegen die Jack the Ripper ein richtiges Herzchen gewesen war. »Ich fürchte, wir haben nichts Neueres als das, was ich Ihnen gegeben habe, Herr Kriminalsekretär. Vielleicht«, er griff zu einer Dose mit Bonbons, »gibt es andere städtische Behörden, die höhere Budgets haben, um ihre Karten und Blaupausen auf dem neuesten Stand halten zu können.«
Gruber reichte Kraus die Dose.
Warum habe ich nicht daran gedacht?, fragte sich Kraus. Die Städtischen Wasserwerke. Er musste sofort gehen. Dort wusste man sicherlich, wo die Zuleitung zu Überlaufkanal Fünf begann.
Er lehnte ein Bonbon ab, änderte dann jedoch seine Meinung, nahm sich eines und bedankte sich beim Herrn Direktor.
Der süße Geschmack von Schokolade lag immer noch auf seinen Lippen, als er in sein Auto stieg. Es war ein schöner, sonniger Markttag, und ein nicht enden wollender Strom von Fahrzeugen fuhr auf den Viehhof und verließ ihn auch wieder. Kraus musste warten, bis eine Lücke im Verkehr ihm erlaubte, zu wenden, damit er aus dem Viehhof herausfahren konnte. Plötzlich erstarrte er. Ein Lieferwagen, der durch den Haupteingang fuhr, kam ihm irgendwie bekannt vor. Er war schwarz und hatte keine Kennzeichen. Er kniff die Augen zusammen, um zu erkennen, wer hinter dem Steuer saß, aber die Sonne blendete ihn. Schließlich schirmte er seine Augen mit der Hand ab. Was er sah, ließ seinen Magen zusammenkrampfen. Er war es.
Axel. Der Ochse.
Einen Augenblick später begegneten sich ihre Blicke.
Kraus sah, wie Axel sich fragte, wer ihn da anstarrte und ob ihm das Gesicht bekannt vorkam. Ganz offensichtlich las er die Zeitungen ebenso wie jeder andere Berliner und kannte den Kriminalbeamten, der die Jagd auf den Kinderfresser leitete. Ein Ausdruck des Verstehens zuckte über sein Gesicht, das im nächsten Moment zu Stahl zu werden schien. Kraus sah wie in Zeitlupe, wie der Mann mit seinen riesigen Pranken das Steuerrad umklammerte
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