Kindersucher
S-Bahn-Station Frankfurter Allee hindurchführte, wo die neuen Knochen gefunden worden waren. Es war der Regenwasserüberlaufkanal Fünf. Kraus sah, dass er in den Rummelsburger See mündete und von dort in die Spree. Er folgte ihm nach Norden, und sein Herzschlag beschleunigte sich. Er führte direkt unter der Baustelle hindurch, wo der erste Knochensack angespült worden war. Je weiter nach Norden sein Finger fuhr, desto schneller schlug sein Herz. Bis ihm der kalte Schweiß ausbrach.
Der Regenwasserüberlaufkanal Fünf begann unter dem Centralviehhof.
Er nahm ein Taxi zurück zum Polizeipräsidium und stürmte in Freksas Büro.
Die Tür stand offen, aber er blieb draußen stehen.
Freksa war nicht allein.
»Alle unsere Einheiten sind alarmiert. Wenn wir ihn nicht finden, findet ihn keiner. Wichtig ist aber, Freksa, dass wir, so oder so, diese Geschichte zu einem ideologischen Sieg ummünzen. Denken Sie daran.«
»Ja, Herr ...« Kraus glaubte zu hören, dass Freksa den Mann »Herr Gauleiter« nannte.
Aus der Tür stürmte eine kleine Gestalt, die unter einem Filzhut und Trenchcoat beinahe verschwand. Trotz eines übel deformierten Fußes humpelte sie rasch an Kraus vorbei und streifte ihn dabei mit einem schnellen Blick seiner durchdringenden, schwarzen Augen. Kraus war verwirrt. Wer war dieser Mann? Nahm Freksa etwa Befehle von ihm entgegen?
Er klopfte an und betrat das Büro seines Kollegen. Er sprach ihn mit seinem Titel an, obwohl sie denselben Rang bekleideten. »Entschuldigen Sie, Herr Kriminalsekretär.«
Freksa wirkte schockiert. Der Blick seiner blauen Augen zuckte zur Tür, und er schien zu fürchten, dass der kleine Trenchcoat-Träger möglicherweise zurückkehrte und Kraus hier vorfand. »Sind Sie verrückt geworden?«
»Ich habe eine Spur. Eine wichtige Spur.«
»Ja, sicher, Bibelgeschichten. Danke, ich verzichte.«
»Ich dachte, Sie bräuchten Spuren, Freksa. Haben Sie den Lauf des Überlaufkanals zurückverfolgt? Die beiden Fundorte sind miteinander verbunden. Und der Kanal beginnt ursprünglich im ...«
»Hören Sie, Kraus, falls ich Ihre Hilfe brauche, werde ich mich bei Ihnen melden.«
Kraus bemerkte eine kleine Anstecknadel auf Freksas Revers, auf der ein irgendwie verdrehtes schwarzes Kreuz prangte. Seit wann war es Beamten erlaubt, spirituelle, politische oder sonstige Embleme bei der Arbeit zu tragen?
»Nein, Sie hören mir zu, Freksa!«, erwiderte Kraus, bevor er das Büro verließ. »Folgen Sie diesem Kanal ... Er führt Sie direkt zum Viehhof. Regenwasserüberlaufkanal Fünf!«
Am Nachmittag sprachen alle Berliner davon:
Mörderischer Wahnsinniger läuft frei herum. Massenmörder. Kindermörder!
Am späten Nachmittag versuchten die Zeitungen, sich gegenseitig mit neuen Einzelheiten zu überbieten, mit grauenvollen und beinahe vollkommen erfundenen Einzelheiten; sie schilderten, wie die Knochen abgekaut, geröstet, verbrannt oder gegrillt worden waren. So wurde also mit dem letzten Licht des Jahres 1929 der Kindermörder schlafen gelegt. Und dann wurde mit den ersten Abendzeitungen ein noch bedrohlicheres Monster geboren, das die Berliner im neuen Jahrzehnt verfolgen sollte:
Der Kinderfresser.
Natürlich tauchte er auch auf der Silvesterparty der Gottmanns auf.
»Wir wissen, dass du keine Dienstgeheimnisse verraten darfst, aber stimmt es wirklich, was die Zeitungen schreiben?«, bedrängte ihn Vickis Schwester Ava, eine zweiundzwanzigjährige Studentin. Sie hatte hohe Wangenknochen, einen schlanken Hals und funkelnde, kastanienbraune Augen. Sie war fast ebenso hübsch wie Vicki und genauso intelligent.
»Vielleicht nicht alles«, nahm Kraus sie auf den Arm.
Trotz der angeblichen Informationen der Zeitungen aus gutinformierten Quellen wusste er beispielsweise aus den vertraulichen Gesprächen mit Dr. Hoffnung, dass die Knochen zwar gekocht worden waren, aber nichts auf Kannibalismus hindeutete. Trotzdem gab es zu diesem Zeitpunkt erheblich mehr Fragen als Antworten, und Kraus konnte nur hoffen, dass Freksa diesem verdammten Hinweis mit dem Überlaufkanal folgte. Der würde ihm vielleicht nicht verraten, wer es gewesen war oder warum, aber möglicherweise wo es passiert war.
»Man fragt sich unwillkürlich, was das für Kinder sind.« Bette Gottmann, Vickis Mutter, spielte mit ihren bunten Perlen. Sie war besonders stilvoll gekleidet, in ein glänzendes, schwarzes Kleid mit Fransen. »Wo sind ihre Eltern? Warum hat sich bisher keiner gemeldet, um einzufordern, was von
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