Kindersucher
Wangen brannten. Mein Gott! Er hatte gewusst, dass da noch mehr kommen würde.
Freksa gab um zehn eine Pressekonferenz.
Kraus ließ es sich nicht nehmen, anwesend zu sein.
Der Konferenzraum war zum Bersten voll. Hinter einem Dutzend Stativen bereiteten die Fotografen ein wahres Gewitter aus Blitzlichtern vor. Auf einer Segeltuchplane unter dem Podium des Sprechers waren fein säuberlich Haufen von Oberschenkel-, Wadenbein-, Schienbein-, Schlüsselbein- und Rippenknochen aufgeschichtet. Sie waren nicht zu Mustern verarbeitet wie die aus dem ersten Sack, sondern einfach nur gestapelt, wie Holzscheite. Doch wegen der Jutesäcke, die daneben lagen, hegte Kraus keinerlei Zweifel: SCHNITZLER & SOHN. Und es waren kleine Knochen. Sauber. Weiß. Ausgekocht.
Ein ganzer Haufen davon.
Als Freksa hereinkam, richtete sich das Gewitter der Blitzlichter auf ihn. Selbst an Mordschauplätzen zögerte der große blonde Star der Kriminalpolizei nie, für die Kameras zu lächeln. Heute jedoch tat er das nicht. Er baute sich mit durchgedrücktem Rücken und geschwellter Brust vor den Mikrofonen auf, und jeder, der ihn kannte, hörte den Ärger in der Stimme von Hans Freksa.
»Drei Jutesäcke«, seine Worte ließen den Elan vermissen, mit dem er sich normalerweise an die Presse wendete, »wurden in den Abwasserrohren in der Nähe der S-Bahn-Station Frankfurter Allee gefunden. Wir glauben, dass sie aus derselben Quelle stammen wie ein ähnlicher Fund, der im vergangenen Herbst auf einer Baustelle in der Nähe gemacht wurde. Die Rechtsmediziner haben bestätigt, dass die menschlichen Überreste in den Säcken allesamt Kinderknochen sind. Sie stammen ausschließlich von Jungen.« Er hielt inne und sah sich im Raum um, blickte jedoch über Kraus hinweg. »Es handelt sich insgesamt um dreiundzwanzig Individuen.«
Das Keuchen im Raum war deutlich zu hören, und auch Kraus rang nach Luft.
»Bedauerlicherweise haben wir keinerlei Spuren, die auf einen Täter hinweisen. Deshalb bitten wir jetzt die Öffentlichkeit um Mithilfe. Jeder, der irgendwelche Informationen besitzt, soll sich melden.« Freksas blaue Augen starrten in die Blitzlichter. »Meine Herren von der Presse, es ist sinnlos, etwas zu beschönigen. Einer der wahnsinnigsten Massenmörder in der deutschen Geschichte treibt sein Unwesen in Berlin. Und wir wissen nicht das Geringste über ihn.«
Das stimmt nicht, dachte Kraus. Wir wissen einiges.
Wir wissen zum Beispiel, dass er in der Lage ist, menschliche Sehnen zu Schnüren zu flechten, was wohl kaum eine weitverbreitete Fähigkeit sein dürfte. Wir wissen außerdem, dass er sich auf irgendeine Weise mit dem biblischen Begriff Kinder des Zorns verbunden fühlt, der wiederum zu einer obskuren Doktrin gehört, die man völlige Verderbtheit nennt. Aus der fast peniblen Art und Weise, in der die Knochen des ersten Fundes arrangiert waren, können wir schließen, dass er versucht, eine Art psychologisches Chaos durch zwanghafte Organisationen zu kurieren.
Kraus schluckte.
War Freksa denn all das nicht klar? Oder spielte er nach einem Plan, den Kraus nicht verstand? Der Mann hatte gerade seine Karriere aufs Spiel gesetzt, indem er sagte, er könne nichts anderes tun, als sich auf die Mithilfe der Öffentlichkeit zu verlassen. Eine scheinbar demütige, vielleicht sogar bewundernswerte Geste. Aber warum ließ er dann entscheidende Einzelheiten aus, die die Öffentlichkeit brauchte, wenn sie wirklich helfen sollte? Zum Beispiel, dass die Knochen alle ausgekocht worden waren. Dreiundzwanzig Jungen, um Himmels willen!
Jemand musste das doch gerochen haben!
Noch bevor die Pressekonferenz zu Ende war, hatte Kraus den Raum bereits verlassen.
Es war ein kalter, sonniger Tag; die Leute liefen bereits mit komischen Hüten herum und bliesen auf Papiertrompeten. Er wartete nicht auf die Straßenbahn, sondern fuhr mit einem Taxi direkt zu den Städtischen Wasserwerken von Berlin, wo ihm seine Polizeimarke Zugang zum Kartenraum gewährte.
Er orientierte sich rasch. Berlin war in zwölf Abwasserbereiche unterteilt, die kreisförmig angelegt waren. Die Abwässer wurden durch Betonrohre in Klärwerke gepumpt, bevor sie in die Flüsse, die Schiffskanäle oder die Seen abgeleitet wurden, die die Stadt umgaben. Regenwasser wurde in einem riesigen System von gemauerten Tunneln, sogenannten Regenwasserüberlaufkanälen, gesammelt und an dieselben Orte abgeleitet. Er fuhr mit dem Finger über die Karte nach Süden, über den Kanal, der unter der
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