Kindersucher
Sie erledigten ihre Arbeit mit mechanischer Gleichgültigkeit. Sie verkauften, was immer sie gerade in den Fässern hatten, wogen und zählten. Zwischen zwei Kunden entspannten sie sich ein bisschen, hockten auf Kisten und schlossen die Augen. Tauchte jedoch der Ochse auf, sprangen sie hoch. Sie hatten ganz offensichtlich Angst vor ihm. Wer konnte es ihnen verübeln? Auf ein Kind musste dieser Hüne wie ein Elefantenbulle wirken.
Kraus musste diese Bestie erneut verfolgen.
Er hatte nicht vor, aufzugeben.
Horthstaler hätte nicht deutlicher demonstrieren können, wer in ihrer Abteilung das Sagen hatte. Aber so übel angeschlagen Kraus sich auch fühlte, er würde nicht lockerlassen. Er würde weiter angreifen.
Und zwar sofort nach seiner zweiten Hochzeitsreise.
Eine Woche nach der beschämenden Suspendierung war es soweit: Vicki und er packten die Koffer. Am gewaltigen Anhalterbahnhof, Berlins Tor zum Süden, mit seinem riesigen Glasdach, das die zahlreichen, belebten Bahnsteige überspannte, winkten ihnen die Kinder zum Abschied zu. Sie hielten die Hände von Tante Ava, die sich in dieser einen Woche um sie kümmern würde. Ava sah sehr hübsch aus mit ihrem Hut mit der weichen Krempe und dem neuen, langen Rock, obwohl sie diese Mode doch angeblich gar nicht hatte tragen wollen. Die Jungs hatten einen riesigen Strauß Narzissen mitgebracht, um den Jahrestag ihrer Eltern zu feiern, und sangen das traditionelle »Hoch soll’n sie leben«. Das war so herzergreifend, dass sowohl Vicki als auch Kraus sich die Augen abtupfen mussten. Als sie sich von ihnen verabschiedeten, musste Kraus unwillkürlich an all diese Kinder denken, die nicht nur auf den Straßen lebten, sondern jetzt auch auf ihnen starben. Die Hirtin. Die Zigeuner. All das würde er jetzt eine Woche hinter sich lassen. Denn er wollte nicht zulassen, dass Verschwörer, Serienmörder oder sein eigenes schlechtes Gewissen Vicki diese Reise verdarben.
Als sie es sich in ihrem privaten Abteil mit dem gedämpften Licht der Milchglaslampen und den gepolsterten Lederbänken bequem gemacht hatten, überkam ihn endlich Erleichterung. Sie verstärkte sich, je weiter der Zug sich von Berlin entfernte. Vor allem, nachdem sie Champagner bestellt hatten. Nach etlichen Gläsern lagen Vicki und er einander in den Armen, schmiegten sich aneinander und ließen jene wundersamen Tage vor einem Jahrzehnt Revue passieren, ihre Hochzeit an den von Blüten übersäten Ufern des Schlachtensees, die Hochzeitsnacht im Adlon, ihre Woche in Venedig. Sie dachten an all die Hoffnungen, die sie gehegt hatten, an ihre Träume und Pläne. Und als sie aus dem Fenster auf den sternenübersäten Himmel blickten, waren sie sich einig, dass alles viel besser gekommen war, als sie sich hätten vorstellen können.
Sie waren zwei glückliche Menschen.
Am nächsten Tag erreichten sie Venedig, das in von Sonne getränkten Farben glitzerte und in dem es trotz der Rezession ebenso von Touristen wimmelte wie schon 1920. Sie stiegen im Vittoria ab, demselben Hotel wie bei ihrer Hochzeitsreise, einem ehemaligen Mönchskloster, und waren so glücklich, dass sie praktisch die Treppe hinauftanzten. Ohne sich mit dem Auspacken ihres Gepäcks aufzuhalten, fielen sie in dasselbe riesige Bett, in dem sie ihre Ehe begonnen hatten, und stürzten sich mit derselben Leidenschaft wie als Frischverheiratete in die Arme.
In mancherlei Hinsicht war es noch schöner als bei ihrer ersten Hochzeitsreise, weil dieses Jahrzehnt sie etwas ruhiger gemacht hatte, empfänglicher, nicht nur für einander, sondern auch für die Welt um sie herum. Für die Kunst. Die Architektur. Das Essen. Alles schien beim zweiten Mal noch viel schöner zu sein. Doch so himmlisch diese Tage auch sein mochten, es war Kraus fast unmöglich, die unerfreuliche Heimreise aus seinen Gedanken zu bannen. Selbst auf der Bootsfahrt nach Burano, als sie an einem wunderschönen Nachmittag in einem Schnellboot über die grüne Lagune sausten, fragte er sich, wie er es wohl schaffen könnte, in den von Haien wimmelnden Strömungen des Alexanderplatzes über Wasser zu bleiben, vor allem wenn seine einzige Absicht war, den tollen Hecht Freksa zu erledigen.
Das würde einen wahren Balanceakt erfordern.
Als Vicki und er später über den Lido schlenderten, drehte sie sich mit glänzenden Augen zu ihm um.
»Das ist das schönste Hochzeitsgeschenk, das du mir machen konntest, Willi, ehrlich. Das aufmerksamste, das süßeste und ganz eindeutig das
Weitere Kostenlose Bücher