Kindersucher
befriedigte sein Sieg über den Kollegen nicht sonderlich, bis zum nächsten Tag, als die Schlagzeilen sich förmlich überschlugen: BEWEISE NICHT ÜBERZEUGEND ... ALLE SECHS ZIGEUNER FREIGELASSEN!
Vicki war so stolz auf ihn, dass sie ihm in dieser Nacht eine ihrer besonderen Fußmassagen zuteil werden ließ.
»Siehst du – fühlst du dich jetzt nicht besser? Du hast richtig gehandelt, Liebling. Lassen wir die ganze Sache hinter uns.« Kraus war nicht dumm genug zu glauben, sein Ärger mit Freksa wäre vorbei, aber das Drama am folgenden Tag hatte nichts mit dem Nazi zu tun. Als er vor die Haustür trat, um die Flasche Milch hereinzuholen, die jeden Morgen dorthin gestellt wurde, hörte er merkwürdige Geräusche vom Treppenabsatz über ihm. Er schlich auf Zehenspitzen hinauf und fand seinen Nachbarn Winkelmann auf den Stufen sitzen. Er weinte wie ein Kind.
»Otto.« Er setzte sich neben ihn. »Meine Güte, nun komm schon, das wird schon wieder.«
»Ich habe alles verloren«, jammerte Winkelmann und rang nach Luft. »Alles.«
»Ach, Mensch! Was passiert ist, ist schrecklich, das stimmt. Aber das kriegst du schon hin. So wie wir schon so viel gemeinsam überstanden haben. Vicki und ich werden alles tun, was wir können ...«
Schlagartig hörte Otto auf zu weinen, und seine Augen blitzten plötzlich vor Wut. »Das verstehst du nicht, Kraus. Du bist ein gemachter Mann. Und ich dachte, ich hätte endlich auch eine Chance. Dieses Geschäft war mein Baby.« Seine Stimme brach, und erneut rannen Tränen über seine Wangen. »Ich habe alles getan, was ich konnte, um es zu halten.«
Kraus legte ihm einen Arm um die Schultern. »Natürlich hast du das. Du trägst keine Schuld daran. Es ist einfach eine schlimme Situation. Diese Krise entwickelt sich zu einer echten Depression, sagt man.«
»Wir haben ein bisschen zur Seite gelegt, aber was ist, wenn das aufgebraucht ist? Du siehst doch all die Familien, die aus ihren Wohnungen geworfen werden und mit ihrer ganzen Habe auf dem Bürgersteig landen. Das kann ich nicht zulassen, Willi. Ich schäme mich so.«
Kraus schnürte sich vor Mitleid die Kehle zu. Er wusste nicht, was er noch sagen sollte.
Der Sturm schien jede Minute stärker zu werden. Der Regen prasselte wie ein Trommelwirbel gegen die Fensterscheibe. Er war froh, dass er jetzt wenigstens nicht auf dem Dach über dem Markt sein musste, wo er den größten Teil der Woche verbracht hatte; in der ersten richtigen Sommerhitze des Jahres hatte ihn der Gestank selbst fünf Stockwerke über der Straße geradezu erstickt. Er hatte nicht das geringste Verlangen, sich im Juli dort oben aufzuhalten. Bedauerlicherweise waren all seine Bemühungen, die Operationsbasis des Ochsen zu finden, nicht von Erfolg gekrönt worden. Es war ihm nur einmal gelungen, den Kerl zu verfolgen, und zwar zu einem Biergarten in Kreuzberg. Danach war der Ochse vollkommen abgetaucht, was eigentlich merkwürdig war, weil sich der Mann normalerweise immer irgendwo auf dem Markt herumdrückte.
Mehr als einmal erwog Kraus seine anderen Möglichkeiten; Helga, die Hohepriesterin, oder Kai, der Straßenjunge zum Beispiel. Er fragte sich, was er tun würde, wenn sie plötzlich mit neuen Nachrichten über die Hirtin auftauchten. Er war sich nicht sicher, angesichts des Versprechens, das er seiner Frau gegeben hatte. Aber auf dem Weg zur Arbeit am gestrigen Tag war wie aus heiterem Himmel eine Erleuchtung über ihn gekommen. Nicht nur Helga kannte die Hirtin, sondern auch Pastor Braunschweig. Diese Bibelpassage aus dem Brief an die Epheser! Natürlich! Überwältigt von der Möglichkeit, an neue Informationen zu kommen, sprang Kraus an der Spandauer Straße von der Straßenbahn und eilte an den Mietskasernen vorbei. Erst als er vor der Kapelle stand, wurde ihm bewusst, dass er dabei war, sein Versprechen zu brechen – ein Versprechen, das er Vicki vor noch nicht ganz einer Woche gegeben hatte.
Vielleicht war es ganz gut so, dass die Putzfrau in der Kirche keine guten Neuigkeiten für ihn hatte. Er versuchte, sich mit diesem Gedanken zu trösten. »Der Pastor ist für drei Monate in einer Entzugsklinik in Baden-Baden.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Die Kirche hat ihn dazu gezwungen. Ich fürchte, das ist seine letzte Hoffnung.«
Kraus nahm diese Neuigkeit mit gemischten Gefühlen entgegen, aber was blieb ihm übrig, als dem armen Teufel Glück zu wünschen?
Und dann jetzt, zu allem Überfluss, heute Morgen, mitten in diesem stürmischen Wind
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