Kindersucher
Venedig.«
Wusste sie denn nicht, dass er suspendiert worden war?
»Sie haben wirklich ein großes Herz, Herr Kriminalsekretär. Das unterscheidet Sie von allen anderen hier.«
Natürlich wusste sie es. Sie wollte ihn nur aufbauen. Er war so gerührt, dass ihm sogar das Souvenir einfiel, das er ihr mitgebracht hatte. »Übrigens«, meinte er und reichte ihr einen kleinen Beutel mit Kaffeebohnen. »Das ist für Sie.«
»Italienische Röstung! Herr Kriminalsekretär, Sie ... sind ein Engel!«
Als sich Kraus jetzt auf seinem Stuhl zurücklehnte und dem Wüten des Sturms lauschte, fühlte er sich aber nicht wie ein Engel. Es sei denn, dass auch Engel von Unsicherheit gepackt werden konnten.
Die ganze Woche über hatten Unwetter getobt.
Bereits am ersten Tag hatte er sich gezwungen, zur Verwaltung hinaufzugehen. Jeder Schritt über den langen, mit Granit ausgelegten Flur schien anklagend zu hallen. Er hatte noch nie zuvor einen Kollegen angeschwärzt. Aber er hatte sich letztendlich Vickis Argument angeschlossen: Welche Rolle spielten Ehre und Ruf, wenn unschuldige Menschenleben auf dem Spiel standen?
Dr. Weiß wirkte so froh wie immer, ihn zu sehen, obwohl er auch ein bisschen erschöpft schien. Die persönlichen Angriffe in der Nazipresse gegen ihn gingen unaufhörlich weiter. Es war nicht gerade der beste Zeitpunkt für einen der wenigen anderen jüdischen Beamte in dem Gebäude, ihn um einen Gefallen zu bitten. Trotzdem musste es sein.
»Das ist ja vielleicht eine Geschichte.« Weiß’ scharfe Augen blitzten hinter seiner runden Metallbrille, nachdem Kraus seine Geschichte beendet hatte. Der stellvertretende Polizeipräsident betrachtete die Karten mit den Kanälen und die anderen Beweise vor sich auf dem Schreibtisch und rieb sich die Schläfen. »Mein Gott, diese Leute treiben es wirklich auf die Spitze, Willi. Ich wusste zwar, dass sie versuchen, die Kripo zu infiltrieren, aber ich hatte keine Ahnung, dass sie schon so weit gekommen sind. Verdammt!« Er schlug mit der Hand auf die Tischplatte. »Goebbels, in diesem Haus!« Weiß nahm einen Bleistift in die Hand. »Die Frage ist nur, was unternehmen wir diesbezüglich?« Er trommelte auf die Schreibtischplatte. »Das wird nicht einfach. Wie immer, wenn es um Politik geht.« Er kritzelte etwas auf die Schreibunterlage. »Geben Sie mir ein paar Tage Zeit. Ich melde mich bei Ihnen.« Kraus sah, dass er ein Hakenkreuz zeichnete. »Es war richtig, dass Sie zu mir gekommen sind.« Weiß macht einen Kreis um das Hakenkreuz und ließ den Bleistift fallen. »Oh, und, Willi ...« Weiß’ Stimme hielt ihn an der Tür auf. »Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Suspendierung. Ich sorge dafür, dass sie aus Ihrer Personalakte gelöscht wird. Diesen Hundesöhnen zeigen wir es.«
Auf dem langen Gang zurück zur Mordkommission pulsierte eine Mischung aus Zufriedenheit und Zweifel durch Kraus’ ganzen Körper.
Und Weiß reagierte schneller als erwartet.
Bereits am späten Vormittag des nächsten Tages tauchte Freksa an der Tür von Kraus’ Büro auf. Er lungerte dort herum wie ein Bluthund. »Sie glauben wirklich, dass Sie die Sache geklärt haben, hab ich recht?« Er verzog grimmig seine dünnen Lippen. »Das ist eine echte jüdische Verschwörung.«
Kraus holte tief Luft. »Merkwürdig, so etwas aus Ihrem Mund zu hören, Freksa. Aus dem Mund eines Mannes, der keinerlei Skrupel hat, sechs unschuldige Männer festzunehmen und dafür einen Massenmörder frei herumlaufen zu lassen.«
Freksas kantiges Kinn zitterte vor Wut. »Ich mache, was man mir befiehlt, Jude. So wie ich es auch jetzt mache, nachdem mir Ihr hakennasiger Freund angedroht hat, mir gehörig den Kopf zu waschen. Aber ich warne Sie, der Tag der Abrechnung ist nah.«
Kraus hatte nichts erwidert.
In Wahrheit war Freksa glimpflich davongekommen. Viel zu glimpflich, dachte Kraus, obwohl er es verstand, nachdem Dr. Weiß ihm die Lage erklärt hatte. Angesichts der gegenwärtigen politischen Lage, hatte der Polizeivizepräsident am Telefon erklärt, wäre die öffentliche Enthüllung eines so schrecklichen Vergehens durch Deutschlands berühmtesten Kriminalbeamten viel zu riskant. Zusammen mit der Reichswehr war die Polizei zur Zeit einer der wenigen stabilen Eckpfeiler der Republik, und sie konnte sich einen so verheerenden Schlag gegen diese Integrität nicht leisten. Freksa musste die Schweinerei beseitigen, die er angerichtet hatte, und unter der Demütigung leiden, ertappt worden zu sein. Kraus
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