Kindersucher
Beil des Schlachters entgegenmarschierte.
Kraus fuhr nach Hause, müde, aber keineswegs entmutigt. Er war schon lange genug dabei, um zu wissen, dass ein Fisch, der einem am ersten Tag durch das Netz ging, am nächsten Tag als schönes Filet auf dem Teller landete. Bis dahin verschwanden hoffentlich keine Kinder mehr.
Es war schon dunkel, als er Wilmersdorf erreichte. Er parkte vor dem Mietshaus, in dem er wohnte, und zog die Handbremse an. Dabei fragte er sich, ob sein Hochzeitsgeschenk für Vicki wirklich klug war. Natürlich würde sie es genießen, genauso wie er. Und selbstverständlich hatte er das Recht dazu, sich ein wenig den Wind um die Nase wehen zu lassen. Die Frage war nur: Konnte er es sich leisten? Immerhin hingen Leben von seiner Arbeit ab. Auf der anderen Seite – er betrat die mit einem Teppich ausgelegte Eingangshalle des Hauses und stieg die Treppe hinauf – wollte er auch nicht wie so viele Polizisten vollkommen von seiner Arbeit besessen sein. Und am Ende von seiner Frau geschieden werden.
Zehn Jahre. Mein Gott. Vicki und er hatten wirklich eine zweite Hochzeitsreise verdient.
Oben spielten seine Jungs mit dem neuen Doktor-Koffer, den ihre Großmutter ihnen geschenkt hatte. Sie »operierten« gerade Heinz Winkelmann, der rücklings auf dem Teppich ihres Kinderzimmers lag.
»Vati!«
Kraus umarmte sie. Dabei fiel sein Blick auf das verdammte Modellflugzeug, das immer noch halb fertig auf dem Tisch stand. Was Erich nicht weiter zu bekümmern schien.
»Mach dir keine Sorgen, Vati.« Er hatte Kraus’ Blick bemerkt. »Wir schaffen das schon.«
»Guten Abend, Herr Kriminalsekretär.« Heinz blickte von dem improvisierten Operationstisch hoch.
»Guten Abend, Heinz. Wie geht es zu Hause?«
»Nicht besonders.« Der Junge war noch zu jung, als dass es ihm peinlich gewesen wäre, darüber zu sprechen. »Wegen dieses Börsenkrachs hat mein Vater sein Geschäft verloren. Jetzt haben wir kein Geld mehr.«
Kraus schnürte sich der Hals zusammen. Es war schrecklich ... Wie eine entsetzliche Seuche, die im Hausflur gegenüber wütete und von der er beiläufig erfahren hatte. Der arme Otto. Er hatte so hart für diesen Laden geschuftet. Was würde er jetzt tun?
Vicki wusste es bereits von Irmgard.
»Oh, Willi, ich wünschte, wir könnten ihnen irgendwie helfen.«
»Ich auch.«
Sie waren beide so aufgeregt, dass Kraus nicht dazu kam, ihr von ihrer zweiten Hochzeitsreise zu erzählen, bis sie im Bett lagen. Er umschlang sie von hinten, schmiegte sich an sie und flüsterte es ihr ins Ohr. Dabei beobachtete er, wie ihre Augen zu leuchten begannen.
»So wie vor zehn Jahren? Eine ganze Woche in Venedig? Oh, Willi ...!« Sie drehte sich in seinen Armen herum und brach in Tränen aus. »Du hättest kein schöneres Geschenk aussuchen können!« Einen Augenblick später nahm sie sein Gesicht zwischen die Hände. »Aber, Liebling, lass es uns nicht den Winkelmanns erzählen, einverstanden? Es kommt mir irgendwie unpassend vor. Wir sagen einfach, dass wir meine Großtante Hedda besuchen.«
Dann presste sie ihre Lippen auf seinem Mund, küsste ihn innig, schob sich auf ihn und fuhr mit ihren Fingern durch sein Brusthaar.
Als Kraus beim Frühstück einen Blick in die Zeitung warf, kam ihm Venedig jedoch fast wie ein Wolkenkuckucksheim vor. KINDERFRESSER-PROZESS ANGESETZT! ZIGEUNER ERWARTET DER GALGEN.
Kraus hatte plötzlich keinen Appetit mehr.
Es war Samstag. Ein halber Arbeitstag. Als er gegen acht zum Polizeipräsidium kam, konnte er nur noch daran denken, wie er Freksa aufhalten konnte. Die Aussicht auf das gemeinsame Mittagessen mit den Kollegen bereitete ihm leichte Übelkeit. Als er den Aufzug betrat, verkrampfte sich sein Magen wirklich. Er konnte es nicht glauben. Die einzige weitere Person im Aufzugskorb war dieser große, blonde selbstzufriedene Nazi persönlich. Am liebsten wäre Kraus wieder hinausgetreten und hätte auf den nächsten Aufzug gewartet, doch gleichzeitig wäre er am liebsten vorgestürmt, hätte den Kerl gepackt und zu Boden geschleudert. Aber er knirschte nur mit den Zähnen und blieb einfach stehen, bis sich die Türen schlossen. Freksa warf ihm einen kurzen Seitenblick zu, zog dann eine Zeitung hervor und schlug sie auf.
Als der Aufzug ruckelnd losfuhr, hatte Kraus das Gefühl, als müsste er gleich explodieren. Dieses Gefühl wurde bei jedem Stockwerk schlimmer. Zwei Jahre lang hatte er die Unverschämtheiten dieses Mannes ertragen. Seine Arroganz, seine Beleidigungen.
Weitere Kostenlose Bücher