Kindersucher
wahrscheinlich konnte er es mit allen gleichzeitig aufnehmen. Aber er kämpfte mit aller Macht darum, ruhig zu bleiben.
»Ab sofort haben Sie in dieser Angelegenheit nichts mehr zu sagen, Kraus, weil Sie offiziell aus disziplinarischen Gründen suspendiert sind.«
Der Satz schlug wie eine Kugel in Kraus’ Hirn ein.
Was?
Er umklammerte haltsuchend die Tischplatte.
Er hatte gewusst, dass es schlimm werden würde, aber damit hatte er nicht gerechnet. Nur mit einer unehrenhaften Entlassung konnte man einen deutschen Beamten schlimmer bestrafen; eine Suspendierung war wie eine Fußkette mit einer Kugel daran, die sich, anders als bei einem Sträfling, niemals wieder entfernen ließ. Es gab keine weiteren Beförderungen. Keine Gehaltserhöhung, die Pension war eingefroren. Kraus wurde übel, und er sah undeutlich auf der anderen Seite des Tisches Freksas rachsüchtige Miene. Du kannst von Glück reden, dass du noch so glimpflich davongekommen bist, schien der Blick der blauen Augen ihm zu sagen. Aber pass auf, Kraus. Du stehst jetzt auf der Liste.
»Weil Ihre Personalakte bis jetzt makellos ist«, Horthstalers dicke Lippen öffneten und schlossen sich, »suspendiere ich Sie nur für zwei Wochen. Aber meine Milde hängt ganz von Ihrem Verhalten ab. Gelingt es Ihnen, sich zu beherrschen, können Sie am dreizehnten wieder zur Arbeit erscheinen. Sollte ich jedoch hören, dass diese ungeheuerlichen Verleumdungen gegen den Kollegen in irgendeiner Weise fortgesetzt wurden ...«
VIERZEHN
Erst ein Mal in seinem Leben hatte Kraus eine so tiefe Schmach empfunden, und zwar, als sein Vater starb. Damals war er neun Jahre alt gewesen und hatte das Gefühl gehabt, seine Welt wäre zusammengebrochen. Jetzt war er neununddreißig, und sein Selbstwertgefühl schien genauso schlimm erschüttert worden zu sein. All die Jahre harter Arbeit waren unwiderruflich für die Katz. Und warum? Weil er den Mund aufgemacht hatte.
Zuerst hatte er zu Dr. Weiß laufen und gegen diese ungerechte Behandlung protestieren, Freksas beschämenden Betrug enthüllen wollen. Aber Weiß hatte bereits deutlich gemacht, was er davon hielt, sich für Kraus einzusetzen. Außerdem hatte er diesmal seinem Vorgesetzten den Gehorsam verweigert. Da konnte er nicht gut um Hilfe rufen.
Stattdessen hätte er von vornherein unauffällig vorgehen sollen. Er hätte Geschichten in den Zeitungen platzieren, die Sache so darstellen können, wie er sie sah, und dabei die Quelle sorgfältig kaschieren können. Das Risiko war ihm zu hoch gewesen, weil im Falle der Entdeckung seine gesamte Karriere ruiniert worden wäre. Doch was hatte ihm denn dieser unbedachte, direkte Angriff gebracht? Freksa machte trotzdem weiter, entschlossener als je zuvor, genug Beweise für eine Verurteilung der Zigeuner zu erfinden. Die Unschuldigen blieben in Haft. Die Schuldigen jubelten. Die Republik nahm Schaden.
Und die ganze Zeit lief ein Kindermörder frei herum.
Außerdem war die Demütigung entsetzlich. Es war Kraus unendlich peinlich, dass man die strengste aller Disziplinarmaßnahmen gegen ihn ergriffen hatte; er kam sich wie ein Kind vor, das in die Hose gemacht hatte. Er wagte es jedenfalls nicht, Vicki davon zu erzählen. Sie hatte möglicherweise Mitgefühl mit seiner Notlage, aber sie wäre zweifellos auch fuchsteufelswild geworden, weil er sich so hartnäckig in einen Fall eingemischt hatte, den sie als gefährlich für die Familie ansah. Wenn er morgens die Wohnung verließ, musste er all seine Energie darauf verwenden, eine Frau, die das Gras wachsen hörte, davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung war. Vielleicht sieht ja nächste Woche in Venedig alles anders aus, redete er sich ein.
Er ging weiterhin jeden Tag zur Arbeit. Nicht ins Polizeipräsidium, sondern zu seinem Ausguck über dem Markt der freien Händler. Dann beobachtete er mit seinem Feldstecher die ungepflegten Männer und die Tonnen und Fässer mit dem faulig stinkenden Inhalt, während ihn immer wieder aufs neue erschütterte, was ihm widerfahren war. Eine Suspendierung aus disziplinarischen Gründen! Solange er bei der Polizei blieb, würde seine Personalakte diesen dunkelsten aller Makel aufweisen. Man hätte ihm auch gleich ein Brandeisen aufdrücken können!
Kraus richtete seinen Feldstecher auf die Kinder, die auf dem Markt arbeiteten. Erneut durchströmte ihn Mitgefühl für sie. Wie mutlos sie hinter ihren mit Widerwärtigkeiten gefüllten Fässern standen, ohne auch nur ein Wort miteinander zu reden.
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