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Kindersucher

Kindersucher

Titel: Kindersucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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Tiergarten, mit seinen Kuppeln und Türmen und dem großen grauen Fluss, der sich hindurchwand: All das war vollkommen von Regenwolken verborgen. Plötzlich fühlte er sich gehemmt, unbehaglich. Hatte Freksa gekniffen? War es vielleicht nur ein alberner Oberschülerscherz gewesen? Waren das Schritte in Kampfstiefeln hinter ihm? Er fuhr herum und sah italienische Touristen, die an ihm vorbeimarschierten, dick eingepackt gegen den Sturm.
    Dann sah er durch die Regenschleier eine Gestalt auf dem ungeschützten Bürgersteig auf der anderen Seite. Sie lehnte sich gegen die Balustrade. Die Gestalt war so dünn wie Freksa und trug einen eleganten Trenchcoat und Filzhut. Aber warum stand er da draußen im Regen? Nach einer Weile begriff Kraus, dass es sich tatsächlich um Freksa handelte, und er schrie ihm etwas zu. Aber obwohl Freksa ihn sah, blieb er einfach dort stehen. Kraus war mittlerweile wirklich wütend, wartete auf eine Lücke im Verkehr und rannte dann über die Straße. Doch als er Freksa sah, sagte er nichts, weil er auf den ersten Blick erkannte, dass mit dem Mann eine Veränderung vorgegangen war.
    »Hallo«, murmelte Freksa, als wären sie sich zufällig an einer Straßenecke begegnet.
    Seine Haltung und sein Gehabe erschütterten Kraus. Normalerweise war Freksa ein gut aussehender Mann, der eine derartige olympische Selbstsicherheit ausstrahlte, dass sie ihm fast eine gottähnliche Aura verlieh. Jetzt jedoch wirkte er wie eine Statue, die man vom Sockel gestoßen hatte. Die dünnen blassen Lippen teilten sich. »Gut, dass Sie gekommen sind.« Der Blick seiner leeren Augen schien durch Kraus durchzugehen. »Sie sind ein besserer Mensch als ich. Allerdings hatte ich auch nicht die Vorteile, die ihr Juden habt.«
    Kraus wich leicht zurück. Freksa mochte vielleicht am Boden liegen, aber das hinderte ihn nicht daran, weiterhin Seitenhiebe auszuteilen. Was für Vorteile sollte Kraus angeblich genossen haben? Sein Vater war tot umgefallen, als Kraus neun Jahre alt gewesen war. Seine Mutter hatte als Verkäuferin für Unterwäsche bei Wertheim gearbeitet. Gewiss, sie hatten nie gehungert, aber sie waren auch nicht gerade zur Sommerfrische in die Normandie gefahren.
    Und war es wirklich nötig, im Regen zu stehen, wenn auf der anderen Straßenseite ein Dach Schutz gewährte? Aber Freksas Verwirrung war so extrem, dass jede andere Reaktion als Mitleid unangemessen schien.
    »Ich war auf mich allein gestellt, seit ich zwölf war«, murmelte Freksa wie ein Automat. Seine Augen waren weit aufgerissen, seine Stimme klang monoton.
    Es dauerte eine Sekunde, dann begriff Kraus, was hier vor sich ging. Er hatte es schon oft gesehen, in den Schützengräben, wenn sich der Staub eines Artilleriefeuers gelegt hatte; wenn es einen Kurzschluss im Nervensystem gegeben hatte, Freksa hatte einen Schützengrabenschock. Nicht unbedingt einen Nervenzusammenbruch von der Art, der Männer zu vollkommen gebrochenen Hüllen machte, die nur noch zuckend dahinvegetierten. Sondern eher ein Zusammenbruch, der einen Mann in einen traumähnlichen Zustand versetzte, für Stunden, Tage oder sogar Monate, der dann jedoch nachließ und ihn wieder normal wirken ließ ... nur dass unter der Oberfläche eine Zeitbombe tickte. Man brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was bei Freksa diesen Zusammenbruch ausgelöst hatte. Er war sehr unvermittelt und plötzlich in Ungnade gefallen. Und was hatte wohl Doktor Goebbels gesagt, als er erfuhr, dass die Zigeuner freigelassen werden mussten?
    »Dabei war ich noch einer der Glücklicheren.« Freksa lachte und schien sich an sein jugendliches Glück zu erinnern. »Ich habe einen wirklich tollen Job im Kaiserhof ergattert. Hatte sogar Streifen an den Hosen. Und jede Menge Messingknöpfe. Page Erster Klasse Freksa zu ihren Diensten! « Er salutierte mit zwei Fingern. Dann ließ er die Hand sinken. »Himmel, was sie in den Hinterzimmern mit uns gemacht haben, wenn diese Knöpfe nicht glänzten.«
    Es schüttete wie aus Eimern. Kraus konnte den Regen nicht mehr ertragen.
    »Haben Sie mich mitten in diesen prasselnden Regen gezerrt, Freksa, um mir einen Vortrag über Ihre Pagenuniform zu halten?« Kraus versuchte, den Kollegen aus seiner Lethargie zu reißen. »In unserer Stadt läuft ein Monster frei herum!«
    Seine Wut schien zumindest eine der Verteidigungsmauern Freksas zu durchdringen, denn der Mann richtete seine trüben Augen auf ihn. »Wieso haben Sie mir nie erzählt, dass Sie in einer

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