Kindersucher
Kommandoeinheit hinter den feindlichen Linien gearbeitet haben, Kraus?«
Kraus sah ihn verblüfft an. Freksa hatte ihn noch nie so persönlich angesprochen, und das überrumpelte ihn. Er hatte im Übrigen nie erwähnt, dass er hinter den feindlichen Linien eingesetzt worden war, weil sich in diesen zwei Jahren, die er jetzt bei der Mordkommission war, nie die Gelegenheit ergeben hatte, ein solches Thema anzuschneiden. Zudem war Freksa ihm bislang nur feindselig entgegengetreten. Kraus wusste nicht einmal genau, wie Freksa von seiner Kriegsvergangenheit erfahren hatte, es sei denn ... über Dr. Weiß.
»Diese Kerle von den Kommandos waren die Einzigen, die wir respektiert haben.« Freksa schien Kraus für einen Moment tatsächlich wahrzunehmen. »Nicht mal die Flieger haben wir so bewundert wie diejenigen, die hinter den feindlichen Linien operiert haben.«
Kraus wusste nicht, was er sagen sollte. Er hätte Freksa wirklich gerne aus dem Regen gelockt, der sich in einem Schleier über die Ränder ihrer Hüte ergoss, aber er spürte, dass er den Mann nicht stören sollte, ebenso wenig wie man einen Schlafwandler aufwecken durfte. »Sie waren also auch dabei.« Mehr fiel ihm nicht ein.
Freksas Antwort wäre den meisten Leuten schwachsinnig vorgekommen. Er gab ein scharfes, sirenenartiges Heulen von sich, aus den Mundwinkeln, unterbrochen von einem schnellen Zungenschnalzen. Aber jeder, der an der Front gekämpft hatte, wusste sehr genau, was das war. Kraus lief es eiskalt über den Rücken.
Von all den Schrecken im Krieg, Flammenwerfern, Panzern, Maschinengewehren, verkörperten vor allem die chemischen Waffen die Gräuel, zu der sich die menschliche Grausamkeit gegenüber den Mitgliedern ihrer eigenen Spezies verstiegen hatte. Über eine Million Soldaten hatten unter den Spitzenprodukten der modernen Wissenschaften gelitten: Chlor, Brom, Phosgen.
Freksa imitierte gerade den Alarm für einen Gasangriff.
Dort, im strömenden Regen, riss er seinen Mantel auf, öffnete die Hemdknöpfe und entblößte seinen Oberkörper. Seine Haut sah aus wie ein großer Teller Sahne. Ein groteskes Muster aus rosa und weißen Narben, für die es nur eine einzige Ursache geben konnte: die am häufigsten verwendete Chemikalie des Krieges. Ein bösartiger, ätzender Kampfstoff, der nach seinem scharfen Gestank benannt worden war. Senfgas.
»Das sind meine Medaillen, Kraus.«
Kraus holte tief Luft. Das da war, gelinde gesagt, eine sehr grausame Ehrenbezeugung. Und erklärte möglicherweise auch, warum Freksa mit vierzig immer noch Junggeselle war.
»Vielleicht verstehen wir beide uns viel besser, als uns klar ist, Hans«, erklärte Kraus, der kaum merkte, dass er Freksa beim Vornamen nannte. »Aber bitte, ziehen Sie sich wieder an, damit Sie keine Lungenentzündung bekommen.«
Freksa schloss achtlos das Hemd. »Ist schon ironisch, stimmt’s? Ich bin Polizist geworden, weil die Uniformen mich an die der Pagen erinnert haben. Und dabei habe ich nie eine Polizeiuniform getragen.« Er knöpfte das Hemd schief zu. »Weil ich Kriminalbeamter wurde, das muss ich Ihnen ja nicht sagen. Ich war der Beste. Bis ich über die Politik gestolpert bin.«
»Warten Sie, ich helfe Ihnen.« Kraus streckte die Hand aus.
Freksa ließ zu, dass er ihm das Hemd richtig zuknöpfte.
»Ich habe mich wichtig gefühlt, weil ich einer von ihnen war«, murmelte Freksa halb flüsternd, wie ein Jüngling vor einem Richter. »Ich war Teil einer historischen Bewegung. Aber ich war Kriminalbeamter, schon lange bevor ich ein Nazi wurde. Und als sie mich gezwungen haben, falsche Anschuldigungen zu erfinden ...« Er packte Kraus’ Hand und hielt sie fest. »Können Sie sich vorstellen, wie ich mich geschämt habe, als ich dieses Schauspiel für die Presse aufführen musste?« Freksa schien um Kraus’ Mitgefühl zu betteln. »Nach all den Jahren ehrlicher Detektivarbeit? Nicht, dass mir etwas an diesen verdammten Zigeunern gelegen hätte.«
Mit dieser Bemerkung verlor er alles Mitgefühl, das er sich bis dahin erarbeitet hatte. Kraus zog seine Hand weg.
Freksa hüllte sich enger in den Trenchcoat. »Aber der Kindermörder ist immer noch da draußen, und diese Hundesöhne interessiert das überhaupt nicht. Ich habe diese kleine Missgeburt Goebbels gefragt, was ich tun sollte, wenn es weitere Morde gäbe. Er hat geantwortet, ich sollte wieder lügen! Beim nächsten Mal größere und bessere Lügen erfinden. Er meinte, je gewaltiger die Lüge wäre, desto mehr Menschen
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