Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
wie möglich begann sie in diese Richtung zu laufen, durch die Mückenschwärme und die Schatten hindurch. Aber sobald sie den Weg an den menschenleeren Plätzen hinter sich ließ und den Waldrand erreichte, wurden die Schatten dunkler und dichter und verschmolzen zu einem beunruhigenden Zwielicht - und sie zögerte, da sie sich nicht mehr sicher war, ob sie weitergehen wollte.
Wo steckten sie? Es knackte im Wald. Dann Sarahs Stimme: „David!“ Direkt vor ihr … Da war ein Pfad. In dem wirren Halbdunkel des Unterholzes sah sie ihn kaum. Sie drehte sich um, wollte ins Internat zurück. Ausgeschlossen, dass sie da hineinging. Aber dann gewannen Neugier und Wissensdurst die Oberhand, und sie wandte sich wieder dem Wald zu.
Langsam bahnte sie sich einen Weg durch das Dickicht. Spinnennetze im Gebüsch streiften ihr Gesicht, Tausende von Stechmücken schwirrten umher, angelockt von ihrer nackten Haut, ihrem Blut und ihrem Schweiß. Sachte setzte sie einen Fuß vor den anderen, aber die Mädchen waren so laut, dass sie sie mit Sicherheit nicht bemerkten. Zwischen den schwarzen Silhouetten der Bäume über ihr zeichneten sich im vergehenden Tageslicht hellere, staubgesättigte Himmelsstreifen ab, aber hier unten war es dunkler und kühler. Sie spürte, wie eines dieser Tierchen sie in den Hals stach, und sie musste sich beherrschen, um nicht danach zu schlagen.
„David, was ist denn in dich gefahren, verdammt?“
Die Stimmen dort: Sie hatten ihn gefunden … Margot bekam vor Angst einen trockenen Mund, sie trat auf einen kleinen, dünnen Zweig, der beim Zerbersten krachte wie ein Silvesterknaller, und einen Augenblick lang befürchtete sie, dadurch auf sich aufmerksam zu machen, aber die Mädchen waren viel zu beschäftigt.
„Mein Gott, David, was machst du denn?“
Sarahs Stimme hallte durch den Wald, sie hörte sich fast panisch an. Und diese Panik war ansteckend, Margot selbst war kurz vor dem Ausrasten. Vorsichtig schlüpfte sie zwischen den Tannenästen hindurch. Entdeckte eine Lichtung in der Abenddämmerung.
Um Himmels Willen, was war denn hier los?
David stand mit nacktem Oberkörper am anderen Ende der Lichtung und lehnte, die Arme seitlich ausgestreckt, an einem Baumstamm. Er umfasste zwei dicke Äste, die in Höhe seiner Schultern fast vollkommen waagrecht verliefen; diese bizarre Körperhaltung erinnerte unverkennbar an eine Kreuzigung. Sein Kopf war nach unten geneigt, das Kinn ruhte auf seiner Brust, als hätte er das Bewusstsein verloren. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen. Nur seine blonden Haare. Und seinen Bart. Ein blonder Christus … Plötzlich hob er den Kopf, und vor Schreck wäre sie beinahe zurückgezuckt, als sie seinen irren, leeren Blick sah.
Sie dachte an die Coverversion eines Depeche Mode-Songs von Marilyn Manson: Your own personal Jesus/Someone who hears your prayers/Someone who cares …
Die Äste über ihrem Kopf schwankten leicht im Wind, und als sie die roten Striche auf Davids Brust entdeckte, machte ihr eine Art Stromstoß eine Gänsehaut. Ganz frische Hautritzungen … Dann sah sie das Messer. In seiner rechten Hand … Auch die Klinge war blutig.
„Hi, Mädels.“
„Mensch, Daniel, bist du übergeschnappt?“, fragte Virginie.
Ihre Stimme drang laut durch die Stille der Lichtung. Seltsam kichernd sah David auf seine blutverschmierte Brust herunter.
„Ich hab ziemlichen Mist gebaut, was? Wie schafft ihr das? Wie schafft ihr das bloß, bei all dem, was passiert, so gelassen zu bleiben?“
Hatte er Drogen genommen? Er wirkte total high. Er zitterte von Kopf bis Fuß, nickte mit dem Kinn, lachte und weinte gleichzeitig – zumindest glich es einem Lachen oder, genauer gesagt, einem Hohngelächter … Aus den vier Schnittwunden an seiner Brust quollen Blutperlen hervor, die an erstarrte Farbtropfen erinnerten. Weiter unten entdeckte Margot eine riesige Narbe, die quer über seinen Bauch lief, unmittelbar über dem Nabel.
„Ich halt diese ganze Scheiße nicht mehr aus … Das muss aufhören, wir können nicht so weitermachen …“
Schweigen.
„Im Ernst, was soll das alles? Was treiben wir da eigentlich? Wie weit wollen wir noch gehen?“
„Beruhig dich.“
Virginie. Wieder sie.
„Und Hugo? Hast du an Hugo gedacht?“
Aus ihrem Versteck hinter einem Strauch sah Margot, wie David den Kopf hin und her wiegte und zum Himmel aufblickte.
„Was kann ich dafür, dass Hugo im Knast ist?“
„Mann, Hugo ist dein bester Freund, David! Du weißt, wie sehr er dich
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