Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
beiden Mitarbeitern: Vincent würde den Auftrag schon allein deshalb besonders gewissenhaft ausführen, weil er Margot kannte. Und Samira gehörte, ungeachtet ihrer extravaganten Klamotten, zu seinen besten Kräften. Nur dass dieser Gegner hier nichts mit denen gemein hatte, die das Polizeipräsidium und die Gerichtssäle gewöhnlich bevölkerten.
Die nächsten beiden Stunden verbrachte er damit, das Haus und das seltene Kommen und Gehen in der Straße zu beobachten: größtenteils Nachbarn, die spät von der Arbeit kamen, ihre Mülltonnen an die Straße stellten oder ihren Hund gassi führten. Nach und nach sah man den flimmernden Widerschein der Fernsehbildschirme in den Wohnzimmern, und in den Fenstern der Obergeschosse ging das Licht an. Er fragte sich, wo er den Satz gelesen hatte: „Überall, wo der Fernseher leuchtet, wacht jemand, der nicht liest.“ Er wäre gern in seiner Wohnung gewesen und hätte mit einem aufgeschlagenen Buch auf den Knien leise Mahler gehört.
An diesem Abend kam Ziegler spät nach Hause. Im letzten Moment hatte sie in einer Bar in Auch eine Schlägerei schlichten müssen: Zwei Typen, die nicht einmal die Kraft hatten, sich zu schlagen, so besoffen waren sie, aber doch genug Kraft, um ein Messer zu zücken; beim Eintreffen der Ordnungskräfte hatten sie sich in einer so rührseligen und widerwärtigen Weise selbst bemitleidet, dass sie sich wünschte, es gäbe ein Delikt namens „höchstgradiger Schwachsinn“, um sie hinter Schloss und Riegel zu bringen. Sie zog ihre schweißgetränkte Uniform aus und ging unter die Dusche. Danach hatte sie drei SMS von Zuzka auf ihrem Handy. Ziegler verzog das Gesicht. Sie konnte sich nicht aufraffen, nach diesem aufreibenden und traurigen Arbeitstag noch ihre Freundin anzurufen. Sie hatte ihr nichts zu erzählen … Außerdem wartete noch eine andere Aufgabe.
Danke, Martin. Wegen dir wird es nicht mehr lange dauern, bis ich einen Mordsärger mit meiner Partnerin kriege. Von wegen, Beraterin!
Sie öffnete die Fenster, um die abendliche Brise hereinzulassen, die nicht viel kühler war als die schwüle Luft in ihrem Wohnzimmer. In der Gendarmeriekaserne war es still. Sie stellte den Fernseher leise, schob eine Aufbackpizza in die Mikrowelle und ging im Pyjama quer durchs Wohnzimmer zu ihrem Mac.
Während sie auf den allzu heißen Käse auf der Pizza blies und an einem großen Gin Tonic mit Eiswürfeln schlürfte, tippte sie auf ihrer Tastatur herum.
Ein Foto der in den Baumstamm eingeritzten Buchstaben „J H.“, die Martin entdeckt hatte, tauchte auf dem Bildschirm auf. Espérandieu hatte es ihr geschickt. Sie machte ein zweites Fenster auf, tippte in Google Maps ‚Marsac‘ ein, schaltete auf Satellit um und vergrößerte nach und nach das Nordufer des Sees, bis sie die maximale Vergrößerung erreichte; aber das Bild war verschwommen, und sie wählte eine niedrigere Vergrößerungsstufe, bis drei Zentimeter 500 Metern entsprachen. Langsam bewegte sie den Cursor über die Uferlinie. Von oben gesehen glichen einige dieser Anwesen regelrechten kleinen Schlössern: Tennisplätze, Schwimmbäder, Poolhäuser, Nebengebäude, baumbestandene Parks, Anlegestege am See für leichte Jollen oder Motorboote, ja sogar ein Gewächshaus oder ein Kinderspielplatz. Ein Dutzend, nicht mehr: der bebaute Uferstreifen war höchstens zwei Kilometer lang. Die Villa von Marianne Bokhanowsky war die letzte vor dem dichten Gehölz, das das West- und Südufer des Sees überzog und sich anschließend zu einem geschlossenen Wald vereinigte, der sich über Kilometer erstreckte.
Sie fuhr mit dem Cursor weiter bis zu einer Straße, die den Wald durchschnitt. Etwa zweihundert Meter von Mariannes westlicher Grundstücksgrenze. Sie beschrieb ein J, dessen oberes Ende nach Norden zeigte, während die untere Schleife nach Westen gerichtet war. In der Mitte der Schleife befand sich ein Parkplatz mit offenbar zwei Picknicktischen. Aller Wahrscheinlichkeit nach war Hirtmann von dort aufgebrochen. Wegen der Bildauflösung und der dichten Vegetation konnte sie nicht sehen, ob dort ein Weg verlief. Sie beschloss, am nächsten Tag einen Ausflug dorthin zu machen, sofern sich die Nervensägen vom Dienst trotz der Hitze ruhig verhielten. Der Erkennungsdienst hatte die Umgebung der Quelle gründlich untersucht: Laut Espérandieu hatten sie nichts gefunden – aber hatten sie auch im weiteren Umfeld nach Spuren gesucht? Sie bezweifelte es. Sie spürte, wie die Erregung in ihr wuchs:
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