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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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gewisser Weise an dem Tag umgebracht, an dem er Polizist wurde.“ Eine bloße Lüge? War Francis Van Acker einer, der sich an denen rächen wollte, die talentierter, begabter oder schöner waren als er? Verbarg sich hinter seinem Sarkasmus ein Minderwertigkeitskomplex? Hatte er Marianne nur deshalb manipuliert und verführt, um ihn auszugleichen - und weil sie in diesem Moment ein leichtes Opfer war? Eine Hypothese nahm in ihm Gestalt an. Aber sie war zu absurd, zu abwegig, um sie näher in Erwägung zu ziehen.
    Marianne … Warum hatte sie ihn noch immer nicht angerufen? Wartete sie darauf, dass er es tat? Befürchtete sie, er würde ihren Anruf als Versuch interpretieren, den zu manipulieren, der ihren Sohn aus dem Gefängnis holen konnte? Oder gab es einen anderen Grund? Die Sorge nagte an ihm. Er wollte sie so schnell wie möglich wiedersehen, er spürte schon wieder diese Sehnsucht, von der er sich nur so schwer hatte befreien können. Seit gestern hatte er zehnmal kurz davor gestanden, ihre Nummer zu wählen. Zehnmal hatte er es gelassen. Warum? Und Elvis … Was war seine Rolle in dem Ganzen? Auf ihn war anscheinend ein Mordanschlag verübt worden, er schwebte in Lebensgefahr, und er hatte seine letzten Kräfte mobilisiert, um Servaz aufzufordern, seine Vergangenheit zu durchleuchten. Und schließlich war da noch Lacaze. Lacaze, der nicht sagen wollte, wo er am Freitagabend gewesen war. Lacaze, der ein Motiv und kein Alibi hatte … Lacaze, der seit vier Stunden im Büro des Richters in Gegenwart seines Rechtsbeistands vernommen wurde, aber der Abgeordnete hüllte sich hartnäckig in Schweigen … Elvis, Lacaze, Francis, Hirtmann: die Akteure dieses Dramas tanzten im Reigen um ihn herum wie bei einem Blindekuhspiel. Er war der in der Mitte, der, der mit verbundenen Augen Hände ausstreckte und tastend den Mörder finden musste.
    Servaz stieg aus dem Jeep, verriegelte ihn und ging los. Die kleine Straße abseits des Zentrums war von großen Bürgerhäusern mit baumbestandenen Gärten gesäumt. Viele Autos parkten entlang der Gehsteige. Da war eine Parklücke, aber in der Nähe stand eine Straßenlaterne. Es wurde dunkel, und sie brannte noch nicht.
    Er ging, ohne anzuhalten, daran vorbei, kehrte ins Stadtzentrum zurück und entdeckte ein Geschäft für Angler- und Heimwerkerbedarf, das gerade schließen sollte. Der alte Mann sah ihn verdattert an, als er ihm sagte, er suche eine Angelrute mit oder ohne Rolle, aber ausreichend steif und lang. Schließlich verließ er den Laden mit einer Teleskoprute aus Glas- und Carbonfasern, deren sechs Segmente sich auf vier Meter Länge ausziehen ließen.
    Mit der Angelrute auf der Schulter kehrte Servaz in die stille kleine Straße zurück. Er ging den Gehsteig entlang, warf diskrete Blicke nach rechts und links, blieb unter der Laterne stehen und stieß zweimal kräftig und schnell mit der Rutenspitze gegen die Birne, die beim zweiten Stoß explodierte. Es hatte nicht länger als drei Sekunden gedauert. Genauso unbekümmert ging er weiter.
    Fünf Minuten später stellte er seinen Jeep in der Parklücke ab, wobei er hoffte, dass niemand etwas von seiner Aktion mitbekommen hatte. An den dunklen Fassaden waren mittlerweile einige Fenster beleuchtet, und die Dämmerung senkte sich langsam auf die Straße herab.
    Francis Van Acker wohnte in einem großem T-förmigen Haus eine Hausnummer weiter, das Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut worden war. Servaz sah seine hohe Gestalt durch die Äste einer Pinie und den Schopf einer Weide. Das Haus ragte auf einem kleinen Hügel aus Blumenbeeten und Hecken auf, die um diese Uhrzeit schwarz gefärbt waren, und schien mit seiner Masse die Nachbarhäuser zu erdrücken. Im dreiteiligem Erkerfenster im ersten Stock brannte Licht, auf der rechten Seite des Hauses, unmittelbar über dem Wintergarten im Hausmannschen Stil, mit seinen Säulen, seinen Rundbogenelementen und seinen Zacken aus Schmiedeeisen, die Servaz in der aufkommenden Dunkelheit nur erahnte.
    Ja, diese Villa passte zu ihrem Eigentümer: der gleiche Dünkel, derselbe Stolz. Beides strahlte sie aus, und ihre schwarze Silhouette hatte etwas Unheimliches. Abgesehen von dem Licht auf der rechten Seite war das übrige Gebäude dunkel. Servaz holte seine Schachtel Zigaretten heraus. Er fragte sich, was er sich von der Überwachung eigentlich versprach. Er würde ja wohl nicht jeden Abend wiederkommen. Er dachte an Vincent und Samira, und ein Schauder überlief ihn. Er vertraute seinen

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