Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
hält.“
Servaz sah sie an. Francis … Natürlich, wieso hatte er nicht früher daran gedacht?
Sie sind zu viert im Auto. Sie fahren schnell. Zu schnell. In der Nacht. Auf der Straße, die sich mitten durch den Wald schlängelt, mit heruntergelassenen Fenstern. Der Fahrtwind zerzaust ihre Haare – Mariannes Haare, die sich auf dem Rücksitz an ihn lehnt, verzwirbeln sich mit seinen, und er riecht den Erdbeerduft ihres Shampoos. Im Radio fragt sich in jenem Jahr Freddie Mercury, wer ewig leben will, und Sting, ob auch die Russen ihre Kinder lieben. Francis sitzt am Steuer.
Der Vierte im Bundes ist bestimmt „Jimmy“, oder vielleicht Louis: Servaz erinnert sich nicht mehr. Francis und er reden vorn zusammenhangloses Zeug, lachen und grölen. Sie haben ein Bier in der Hand, sie wirken fröhlich, unsterblich und ein wenig angeheitert. Francis fährt zu schnell. Wie immer, aber es ist sein Auto. Und plötzlich taucht in seiner freien Hand ein Joint auf, er hält ihn Jimmy hin, der gluckst albern herum, ehe er daran zieht. Servaz spürt, wie sich Marianne an ihn schmiegt. Sie trägt ihre mit Strass besetzten Halbfingerhandschuhe, die sie, bis auf den Sommer, in allen Jahreszeiten trägt; ihre warmen Finger ragen aus der Wolle hervor und verhaken sich mit seinen; ihre beiden Hände sind wie die Glieder einer Kette, die niemand zerbrechen konnte. Martin genießt diese Momente, im Halbdunkel im Fond des Wagens sitzend, wo sie beide – er und sie – zu einer Person verschmolzen sind –, auch wenn Francis zu schnell fährt und es kühl ist. Die Scheinwerfer streifen über die Baumstämme, sie brettern durch den Wald, im Auto riecht es trotz der Nachtluft, die in den Fahrgastraum hineinweht, nach Gras. Im Radio folgt Peter Gabriel mit Sledgehammer . Und plötzlich spürt er Mariannes warmen Atem an seiner Ohrmuschel, und er hörte ihre Stimme flüstern:
„ Für den Fall, dass wir heute Abend sterben, sollst du wissen, dass ich noch nie so glücklich war.“
Und er denkt genau das Gleiche, dass ihre beiden Herzen im Gleichtakt schlagen, er ist sich in diesem Augenblick sicher, dass auch er niemals glücklicher sein wird als in diesen Tagen, erfüllt von Mariannes Liebe, von der Freundschaft, die im Wagen herrscht, von der Sorglosigkeit und dem Charme ihrer Jugend, als er im Innenspiegel Francis‘ Blick auffängt, der auf sie gerichtet ist. Der Rauch des Joints steigt in einem dünnen, wirbelnden Fähnchen vor seinen Augen auf. Jegliche Spur von Sarkasmus oder Humor ist daraus verschwunden. Ein Blick voller Begehren, Eifersucht und reinem Hass. Im nächsten Moment blinzelt ihm Francis lächelnd zu, und er glaubt, geträumt zu haben.
Servaz parkte im Stadtzentrum. Er hatte den ganzen Nachmittag nachgedacht. Unwillkürlich musste er daran denken, was Marianne ihm in der vorigen Nacht über Francis gesagt hatte. Dass er kein wirkliches Talent habe, und dass er Servaz immer um dessen Begabung beneidet hatte. Er sah ihren damaligen Französischlehrer wieder vor sich, einen sehr eleganten Mann mit einer dichten weißen Mähne und einer etwas gezierten Diktion, der unter seinen gestreiften Hemdkragen Halstücher und in der Brusttasche seiner Anzugjacken Einstecktücher trug. Servaz und er plauderten nach oder zwischen den Unterrichtsstunden oft lange miteinander, was Francis zu höhnischen Bemerkungen veranlasste. Er machte den alten Mann in einem fort schlecht und hatte ihn im Verdacht, aus anderen als rein intellektuellen Gründen Martins Gesellschaft zu suchen.
Nie wäre Servaz auf die Idee gekommen, dass Van Ackers sarkastische Bemerkungen von Eifersucht herrühren könnten, denn Francis stand in Marsac im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, er hatte seinen kleinen Hof von Bewunderern – und wenn einer Grund gehabt hätte, auf den anderen eifersüchtig zu sein, dann Martin auf ihn.
Die Sätze, die Marianne geäußert hatte, hallten unentwegt in seinem Kopf wider: „Dein bester Freund, dein Alter Ego, dein Bruder … er hatte nur eines im Kopf: dir zu nehmen, was dir auf der Welt am meisten bedeutete …“
Auch wenn er Francis später dafür hasste, dass er ihm die Frau, die er liebte, genommen hatte, hatte er damals noch geglaubt, diese Freundschaft zwischen ihnen habe etwas … Heiliges . Hatte Francis das nicht auch so empfunden? Er erinnerte sich, was er vor fünf Tagen in Marsac gesagt hatte: „Du warst mein großer Bruder, du warst mein Seymour – und für mich hat sich dieser große Bruder in
Weitere Kostenlose Bücher