Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
mehr übrig als für die britische.
„Du hast dich verändert“, sagte er und zog einen Stuhl heran.
„Ja. Ich bin Polizist.“
Aodhágán senkte den Kopf.
„Ausgerechnet! Das hätte ich bei dir am allerwenigsten erwartet“, sagte er leise.
„Menschen ändern sich“, bemerkte Servaz.
„Nicht alle …“
In dem Tonfall des Iren klang schmerzliche Enttäuschung an. Als wollte er nicht wahrhaben, dass Menschen Verrat an ihren Idealen begehen, Überzeugungen über Bord werfen oder Ambitionen aufgeben. Servaz fragte sich, ob das vielleicht auch für ihn galt.
„Ich muss dir ein paar Fragen stellen …“
Er sah Aodhágán unverwandt an.
Dieser hielt seinem Blick stand. Servaz spürte, dass sich die Stimmung veränderte. Sie waren nicht mehr der Martin und der Aodhágán von früher. Sie waren ein Polizist und ein Mann, der ungern Polizisten gegenübersaß.
„Sagt dir der Name Hugo Bokhanowksy etwas?“
„Hugo? Natürlich. Wer kennt nicht Hugo? Ein brillanter Junge … Ein bisschen wie du damals. Nein, eher wie Francis … Du, du warst diskreter, hast dich bedeckter gehalten – auch wenn du ihnen in nichts nachstandest.“
„Weißt du, dass er verhaftet wurde?“
Er nickte schweigend.
„Er war an dem Abend, an dem Claire Diemar umgebracht wurde, in deinem Pub. Und nach Aussage einiger Zeugen hat er die Kneipe einige Minuten vor dem Mord verlassen. Ist dir etwas aufgefallen?“
Der Ire dachte nach. Dann sah er Servaz so an, wie die Jünger auf Judas gesehen haben mussten.
„Ich war an der Bar und habe bedient. Die Tür hatte ich nicht im Blick. An dem Abend war das Pub rammelvoll. Und wie alle anderen habe ich Fußball geschaut. Nein, mir ist nichts aufgefallen.“
„Weißt du noch, wo Hugo und seine Freunde saßen?“
Aodhágán wies auf einen Tisch in der Nähe des an der Wand hängenden Fernsehbildschirms.
„Da. Sie waren früh gekommen, um sich die besten Plätze zu sichern.“
„Wer saß mit ihm am Tisch?“
Wieder dachte der Ire nach.
„Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber ich glaube, Sarah und David waren bei ihm. Sarah ist eine Schönheit, die attraktivste von meinen Stammgästen. Trotzdem spielt sie nicht die Prinzessin. Sie ist ein prima Kerl. Ein bisschen verschlossen. Sie, Virginie, David und Hugo sind quasi unzertrennlich. Sie erinnern mich an Francis, Marianne und dich, als ihr so alt wart …“
Servaz spürte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte.
„Weißt du noch? Als ihr herkamt, um die Welt zu erneuern, um über Politik zu diskutieren … Um Revolte ging es, um Revolution und Systemveränderung … Mein Gott, die Jugend ist überall gleich! Marianne … die war was Besonderes, erinnerst du dich? Selbst die hübsche Sarah kann ihr nicht das Wasser reichen. Marianne hat euch alle den Kopf verdreht, das merkte man … Ich habe viele Studentinnen gesehen … Aber Marianne war einzigartig.“
Servaz warf ihm einen durchdringenden Blick zu. Damals war es ihm nicht bewusst gewesen, aber Aodhágán war zu dieser Zeit selbst erst vierzig. Auch er war damals wohl für Mariannes Reize nicht völlig unempfänglich. Für diese Aura geheimnisvoller Überlegenheit, die von ihr ausging. Für diesen Anflug von Wahnsinn, der sie umgab.
„David ist Hugos bester Freund.“
„Ich weiß, wer David ist. Und Virginie?“
„Eine etwas pummelige kleine Brünette mit Brille. Sehr lebhaft, sehr intelligent. Ziemlich autoritär. Dieses Mädchen ist die geborene Anführerin. Die anderen übrigens auch. Dafür werdet ihr doch alle programmiert, oder? Um Unternehmer, Manager, Minister oder so was zu werden.“
Plötzlich fiel Servaz etwas ein.
„Als wir am Freitagabend in Marsac ankamen, gab es einen Stromausfall …“
„Ja, zum Glück habe ich ein Notstromaggregat. Das war zehn Minuten vor dem Ende des Spiels … Mein Gott, ich kann´s einfach nicht glauben“, brummte Aodhágán vor sich hin.
„Was denn?“
„Dass du Polizist geworden bist …“ Er stieß einen langen Seufzer aus. „Weißt du, in den siebziger Jahren saß ich in Long Kesh, dem übelsten Knast in ganz Nordirland … Hast du schon mal von ‚H-Blocks‘ gehört, einem Hochsicherheitsgefängnis? Ich habe den ‚Deckenstreik‘ von 1978 mitgemacht, haben haben wir uns geweigert, die Gefängnisuniform zu tragen, und haben uns trotz der eisigen Kälte nur in verlauste Decken gehüllt; und den ‚Dirty Protest‘, da haben wir uns nicht mehr gewaschen und haben die Wände unserer Zellen mit unseren Exkrementen
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