Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
Gesicht!“
„Komm mit!“
Espérandieu sah seinen Chef an. Er merkte, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt für Fragen war. Er nahm seine Ohrhörer ab. Martin hatte das Büro schon wieder verlassen. Mit großen Schritten eilte er zu der Doppeltür und zu dem Gang, der zum Büro der Direktion führte. Nacheinander traten sie durch die Brandschutztür, gingen an den Toiletten, dem Wartesaal mit den Ledersofas und dem Sekretariat vorbei.
„Er ist in einer Besprechung!“, stieß die Sekretärin hervor, als sie an ihr vorbeirauschten.
Servaz blieb unbeeindruckt. Er klopfte und trat ein.
„… Anwälte, Notare, Auktionatoren … Wir werden vorsichtig vorgehen, aber mit aller Härte“, sagte Stehlin gerade zu mehreren Mitgliedern des Dezernats für Wirtschaftskriminalität. „Martin, ich bin in einer Besprechung.“
Servaz steuerte auf den großen Tisch zu, grüßte die Anwesenden und legte die auf Seite 5 aufgeschlagene Zeitung vor den Direktor hin. Stehlin beugte sich vor. Überflog die Schlagzeile und sah auf. Auf seinem Gesicht stand unverhohlener Ärger.
„Meine Herren, wir beenden diese Diskussion später.“
Die vier Männer warfen Servaz verdutzte Blicke zu und gingen.
„Die undichte Stelle muss bei unssein“, versetzte Servaz.
Oberkommissar Stehlin hatte seine Jacke ausgezogen. Er hatte sämtliche Fenster geöffnet, um die noch relativ milde Morgenluft hereinzulassen, der Lärm des Boulevards drang in den Raum. Die Klimaanlage war seit mehreren Tagen defekt. Mit dem Kopf deutete er auf die Stühle vor seinem Schreibtisch.
„Hast du eine Vermutung, wer dahinterstecken könnte?“, fragte er.
In einer Ecke stieß ein Faxgerät Nachrichten aus; der Kommissar ließ es ständig eingeschaltet. Servaz sagte nichts. Er hatte den Tonfall bemerkt und verstanden: Vorsicht bei unbewiesenen Anschuldigungen! #Er mochte seinen neuen Chef. Stehlin war ein Praktiker, der die Polizeiarbeit von der Pike auf gelernt hatte – kein Technokrat wie sein Vorgänger, der beim kleinsten Regenschauer den Regenschirm öffnete.
Stehlin drehte sich um und langte nach etwas, was hinter ihm lag. Die gleiche Zeitung. Er legte sie über Servaz´ Exemplar. Er hatte sie bereits gelesen.
„Eines ist sicher“, sagte Servaz. „Das kann weder von Vincent noch von Samira kommen, denen vertraue ich hundertprozentig.“
„Da bleiben nicht mehr viele Möglichkeiten übrig“, bemerkte Stehlin.
„Ja.“
Stehlin wirkte bedrückt. Er legte die gefalteten Hände vor sich auf den Schreibtisch.
„Was schlägst du vor?“
Servaz überlegte.
„Wir spielen ihm eine Information zu, die nur er kennt. Eine Fehlinformation … Wenn sie morgen in der Zeitung steht, schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe: Dann ist erwiesen, dass er es ist, und wir könnten ein ausdrückliches Dementi abgeben und so den Journalisten und seine Quelle diskreditieren …“
Er hatte noch keinen Namen genannt – aber er wusste, dass der Kommissar und er an dieselbe Person dachten. Stehlin nickte.
„Eine interessante Idee … Und an welche Information denkst du?“
„Es muss so glaubwürdig sein, dass er anbeißt … und so wichtig, dass die Presse darüber berichtet.“
„Du kommst gerade aus der Rechtsmedizin“, sagte Espérandieu. „Man könnte behaupten, Delmas hätte ein wichtiges Indiz entdeckt. Ein Indiz, das den Jungen definitiv entlasten würde.“
„Nein“, widersprach Servaz. „Das können wir nicht machen. Aber wir können sagen, dass wir bei Claire Diemar eine CD von Mahler gefunden haben …“
„Aber das stimmt doch“, sagte Stehlin perplex.
„Genau. Das ist ja gerade der Trick. Wir geben nicht den richtigen Titel an. Zu gegebener Zeit können wir dann in aller Ehrlichkeit sagen, dass das falsch ist, dass wir am Tatort keine Aufnahme der 4. Symphonie gefunden haben – natürlich ohne klarzustellen, dass wir eine andere CD gefunden haben …“
Servaz lächelte gezwungen.
„Auf diese Weise wird die Hirtmann-Spur im Mordfall Diemar lächerlich gemacht und der Journalist, der den Scoop veröffentlicht, eine ganze Weile diskreditiert. Wir treffen uns in fünf Minuten mit der Ermittlungsgruppe!“
Er ging bereits auf die Tür zu, als ihn Stehlin zurückrief.
„Hast du von der ‚Hirtmann-Spur‘ gesprochen? Gibt es die denn?“
Servaz sah seinen Chef an, zuckte mit den Schultern, als wüsste er nichts, und ging hinaus.
Ein fernes Donnern, Hitze, Windstille und ein grauer Himmel. Die Natur selbst schien in
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