Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
Erwartung zu sein, erstarrt wie ein Insekt, das in Baumharz gefangen ist. Die Scheunen und die Felder wirkten verlassen, verwaist. Gegen 15 Uhr hielt er an, um in einem Truckstop zu Mittag zu essen; Männer zogen dort lautstark über die Leistungen der Fußball-Nationalmannschaft und die Kompetenz ihres Trainers her. Er glaubte zu verstehen, dass sie als nächstes gegen Mexiko spielen würden. Servaz hätte sie beinahe gefragt, ob das eine starke Mannschaft war, aber er ließ es bleiben. Sein plötzliches Interesse an der WM überraschte ihn selbst, und ihm ging auf, dass es sich aus einer heimlichen Hoffnung speiste: Dass diese Mannschaft so schnell wie möglich ausscheiden würde, damit sie sich endlich anderen Dingen zuwenden könnten.
In Gedanken versunken fuhr er fast wie in Trance durch die gepflasterten Straßen der Kleinstadt. Er dachte an die Unterhaltung der Fernfahrer in der Raststätte, und plötzlich stutzte er bei der Tatsache, dass sich alles innerhalb weniger Stunden an einem Freitagabend abgespielt hatte, während das ganze Land wegen eines Fußballspiels an den Fernsehbildschirmen klebte. Sie mussten sich mit diesem zeitlichen Ablauf eingehender befassen. Sich auf das konzentrieren, was unmittelbar davor geschehen war, und akribisch genau die Chronologie der Ereignisse rekonstruieren. Er verfolgte seinen Gedanken weiter. Er müsste ganz vorn beginnen: bei dem Pub, das Hugo einige Minuten, bevor das Verbrechen begangen wurde, verlassen hatte. Er war immer tiefer davon überzeugt, dass der, den sie suchten, weder diesen Ort noch diesen Zeitpunkt per Zufall ausgewählt hatte. Alles sagte ihm, dass das Timing von entscheidender Bedeutung war. Er parkte auf dem von Platanen bestandenen kleinen Platz und betrachtete die Terrasse des Pubs, die brechend voll war. Jugendliche Gesichter. Studenten, Jungen und Mädchen. Wie zu seiner Zeit waren neunzig Prozent der Gäste jünger als 25 Jahre.
Margot Servaz zog sich aus dem Getränkeautomaten in der Eingangshalle einen nach nichts schmeckenden Kaffee, fügte eine Extraportion Zucker hinzu, die sie aus der Kantine mitgenommen hatte, setzte die Ohrhörer auf - das bedeutete „Nervt mich bloß nicht an!“ – und warf einen diskreten Blick auf das Trio David/Sarah/Virginie am anderen Ende der rappelvollen, lärmenden Eingangshalle. Sie hatten sich in der Pause getroffen. Sie biss sich auf die Unterlippe, während sie sie heimlich beobachtete; dabei tat sie so, als würde sie sich für das Schwarze Brett interessieren, an dem, unter Dutzenden anderen, ein Aushang ankündigte: „Der vom Studentenverein der Uni Marsac organisierte Jahresabschlussball findet am 17. Mai statt“, und ein weiterer: „Public Viewing Frankreich-Mexiko, Donnerstag, 17. Juni, 20:30 Uhr, Foyer F der naturwissenschaftlichen Fakultät. Kommt zahlreich: Bier und Taschentücher werden bereitgestellt!“ Darüber hatte jemand mit dickem rotem Filzstift geschrieben: „Sperrt Domenech in die Bastille!“ Irgendetwas an der lebhaften Art, wie die drei sich unterhielten und ständig Blicke um sich warfen, missfiel ihr.
Sie bedauerte, dass sie nicht gelernt hatte, von den Lippen abzulesen. Als Sarah in ihre Richtung schaute, wandte sie schnell den Blick ab und tat so, als würde sie schimpfend nach ihrem Restgeld angeln durchstöbern. Als sie wieder aufsah, entfernten sich die Drei Richtung Pausenhof. Sie folgte ihnen auf dem Fuß, während sie Zigarettenpapier und ihren Tabaksbeutel herausnahm. In ihren Ohren sang Marilyn Manson mit seiner Stimme, die an eine verrostete Säge erinnerte, Arma-goddam-motherfuck-Ingeddon: Ihr Lieblingssänger und ihre Lieblingsgruppe … Sie wusste absolut alles über sie. Nach dem Vorbild von Marilyn Manson selbst nannte sich der Schlagzeuger der Band Ginger Fish, eine Kreuzung aus Ginger Rogers und Albert Fish, einem kannibalistischen amerikanischen Serienmörder – und der Bassist hatte sich nach dem gleichen Prinzip das Pseudonym „Twiggy Ramirez“ zugelegt, das den Namen des berühmten englischen Mannequins Twiggy mit dem des Serienmörders Richard Ramirez kombinierte. Sie fragte sich allerdings, ob man sich nicht auch über die mögliche Wirkung dieser so hypnotischen Clips und dieser so eindringlich aufpeitschenden Worte auf labile junge Menschen Gedanken machen sollte. Selbstverständlich hätte auch sie die Freiheit der Kunst mit Zähnen und Klauen verteidigt, wenn sie jemand angegriffen hätte – aber sie provozierte eben auch gern. Wie
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