Kindheitsmuster
Aus seinen Andeutungen erriet Nelly, daß Horst Binder sich bemühte, zur gleichen Stunde möglichst das gleiche wie der Führer zu tun, und sie mußte sich schämen, daß ihre Gedanken abschweiften zu der Frage, ob aus ihrer Klasse wohl jemand in der italienischen Eisdiele sein würde, in die sie, koste es, was es wolle, Horst Binder in seiner Jungvolkuniform mit der grünen Schnur des Jungzugführers hineinlotsen mußte.
Es war leichter als gedacht. Ach, sagte sie, bei der Gelegenheit könnt ich schnell ein Malaga-Eis essen! und ging schnurstracks in die Eisdiele, wo ein wirklicher Italiener die blanke Eismaschine bediente und seine Frau, eine wirkliche Italienerin, verkaufte. Im Hintergrund hatte Nelly drei Mädchen aus ihrer Klasse sitzen sehen, Fahrschülerinnen, deren Züge nach Driesen, Schwerinoder Königswalde erst nachmittags fuhren und die sich ihre freie Zeit mit gleichaltrigen Schülern der Oberschule für Jungen in der Eisdiele vertrieben. Nelly konnte ihre Blicke im Rücken spüren. Sie mußte handeln, da man sich in praktischen Fragen auf Horst Binder nicht verlassen konnte. Sie bestellte zwei Portionen Malaga-Eis zum »Hieressen«, da ja ein Jungzugführer in Uniform auf der Straße nicht Eis lutschen durfte. Sie veranlaßte Horst Binder durch eine geschickte Frage, zu zahlen, drängte sich zu einem der hinteren Tische durch, grüßte lässig zu den Fahrschülern hinüber, ließ sich nieder und dirigierte auch Horst Binder auf seinen Stuhl. Nun mochte er weiterreden, und das mußte er auch, denn gerade eben war ihm das Wort eingefallen, das auf sein Verhältnis zum Führer paßte: Er war ihm hörig, und dies war seine Ehre und sein Stolz.
Du beruhigst Lenka: Ja, Nelly hat ihn nach einiger Zeit abgewimmelt. Das ist nicht die ganze Wahrheit, die Lenka, so hoffst du, nicht verstünde. Beim Eisessen konnte es ja nicht bleiben. Es mußte ja dazu kommen, daß Horst Binder nach Nellys Hand griff – das war in der Wollstraße, die vollkommen vom Erdboden verschwunden ist – und daß Nelly ihm ihre Hand entzog, weil die seine feucht und glitschig war; daß sie den Kopf wegzog, wenn sein Atem ihr Gesicht streifte, weil sein Atem übel roch. Das war nun schon in einem Torweg der Richtstraße, der erhalten geblieben ist. Es mußte dahin kommen, daß Horst Binder mit einem schmerzlichen Zug von Entsagung und einer schmerzlich enttäuschten Stimme ihre Beziehung zur »rein geistigen« erklärte, worauf beide sehr lange schwiegen, er vorwurfsvoll, sie schuldbewußt. Das ging den ganzen langenWeg vom Schlachthof bis zu ihrem Haus. Danach sprach Horst Binder ihr häufig vom schönen Sinn des Selbstopfers an eine höhere Sache oder einen höheren Menschen, und Nelly, die sich selbst bestrafen wollte, duldete seine Begleitung sogar noch freundlicher als vorher.
Es mußte noch dahin kommen, daß sie in Horst Binders Haus geschickt wurde – in dem auch der alte Lisicky wohnte, von dem sie Spargel holen sollte – und daß sie in den Keller ging, wo sie den Alten vermutete, und daß sie dort Horst Binder antraf, der mit dem Kopf gegen einen Mauervorsprung lehnte und sich von Bukker, dem gefürchteten rohen Anführer der Lehmannstraßenbande, mit einer Rute schlagen ließ, daß ihrer beider Blicke sich trafen, was vorher niemals geschehen war, und daß sie in Horst Binders Augen einen Ausdruck sah (eben nicht Schmerz oder Angst oder Wut – etwas ganz anderes, ihr nicht Bekanntes), der sie zwang, davonzulaufen.
Horst Binder hat sie niemals wieder belästigt. Er hat sie nie wieder gegrüßt oder angesehen oder gekannt. Allmählich sah sie ihn von ferne ohne besondere Empfindung. Erst als sie erfuhr – das war im Frühjahr 45, da sie unterwegs Nachzügler aus ihrer Heimatstadt trafen, Flüchtlinge wie sie selbst –, Horst Binder habe vor dem Einmarsch der Russen mit der Dienstpistole seines Vaters zuerst seine Eltern, dann sich erschossen: erst da kam ihr eine Erinnerung, der sie jetzt, als sie aufgefrischt wurde, einen Namen geben konnte.
Das Ende von Horst Binder erzählst du Lenka, während ihr über den backofenheißen Marktplatz zu eurem Auto zurückgeht. Irre, sagt Lenka. Auf Einzelheiten istsie nicht erpicht. Da fällt dir auf, daß du die Einzelheiten nicht kennst, weil du kein Bedürfnis hattest, sie dir auszumalen. Jetzt, in der Gluthitze des Autos, das langsam einen Kreis um den Marktplatz zieht (während du ein paar Stichworte mit Bruder Lutz austauschst: die Bahnbögen, früher Lagerhallen; die Zufahrt
Weitere Kostenlose Bücher