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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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zur Gerloffbrücke; hier rechts war ein Haushalts- und Eisenwarengeschäft, da hab ich dir zu Weihnachten dein erstes Taschenmesser gekauft; an das erinnere ich mich, du!) – jetzt findet vor deinem inneren Auge der Tod der Familie Binder statt.
    Schauplatz: das Schlafzimmer. Ein Personal aus der Vorzeit: Frau Binder, ein graues, ängstliches Mäuschen. Herr Binder, ohnmächtiges Allerweltsgesicht über der Eisenbahneruniform. Sohn Horst, nun gut sechzehnjährig, finster entschlossen, seine letzte Tat zu tun. Deutsche Familien bringen einander im Schlafzimmer um. Werden sie gesprochen haben? Nirgendwo wird so abgrundtief geschwiegen wie in deutschen Familien. Wird denn nicht wenigstens Horst Binder irgend etwas gesagt haben, zum Beispiel: Also ich mach jetzt Schluß. Oder: Also ich bring uns um. (Sein teigig bleiches Gesicht mit der ewigen Haarsträhne über dem Auge, das vielleicht in jenen letzten Minuten endlich in zügellosem Selbsthaß glüht.) Der Fähnleinführer Horst Binder ist im Gebrauch von Waffen unterwiesen, nur war nicht vorgesehen, daß deutsche Eltern und ein Hitlerjugendführer das Ziel seiner Schüsse sein sollten. Hieß es nicht, er habe die Eltern frühmorgens in den Betten überrascht? Hat er dann vielleicht noch das Auslaufen tiefroter Flecke auf dem blütenweißen Bettzeug genossen? Oder sich sofort auf dem geblümten Bettvorlegerausgestreckt und sich den Pistolenlauf in den Mund geschoben?
    Der alte Lisicky, der als Luftschutzwart zu allen Wohnungen des Hauses einen zweiten Schlüssel hatte, drang gegen Abend bei Binders ein und sah sich durch den Anblick, der sich ihm bot, veranlaßt, die Nachbarn zusammenzurufen, die noch nicht geflohen waren. Die Schwierigkeiten, mitten in einer klirrenden Frostperiode drei Leichen unbemerkt zu beseitigen. Auch durch Blut verdorbenes Bettzeug bietet einem die unangenehmsten Probleme; sie warfen es dann wohl in die Abfallgrube in der Schlucht.
    Jetzt kommt es auf Genauigkeit an. Was empfand Nelly, als sie im April des Jahres 1945 in dem Dorf Grünheide bei Nauen die Nachricht vom Tode der Familie Binder empfing? Abscheu? Grauen? Entsetzen? Gewiß nicht. Sehr viel später, mitten in anderen Beschäftigungen, die sie ganz in Anspruch zu nehmen schienen, holten die verpaßten Gefühle sie ein.
    Das Stichwort »hörig« blieb unerledigt liegen. Nelly soll es gekannt haben? Doch. Ihre Mutter hatte es zweimal in Familienangelegenheiten geäußert, beide Male mit gebührender Verachtung, und beide Male auf die Familie ihres Mannes gemünzt: auf die Männer seiner Schwestern.
    Bruno Jordans Schwestern hatten mit ihren Männern Pech. Gräßlich zu sagen – besonders vor den Kindern –, aber sie betrogen ihre Frauen. Wer daran nun schuld sein mochte, das soll heute und hier gar nicht bis auf den letzten Fliegenschiß untersucht werden. Aber fest steht: Das Mädel muß da raus, da hilft kein Singen und kein Beten. So sprach Charlotte bei einer Kaffeetafelin Heinersdorf unter freiem Himmel, in diesem Fall über ihre Schwägerin Trudchen Fenske, geborene Jordan, die in letzter Zeit – wir schreiben den Sommer 1940 – traurige, ja verzweifelte Briefe aus dem schönen Plau am See schreibt: Die rothaarige Sekretärin ihres Mannes, des Autoreparaturwerkstattbesitzers Harry Fenske, scheint sich geschworen zu haben, diesen Mann seiner rechtmäßigen Ehefrau wegzunehmen. Das sagte sie Tante Trudchen direkt ins Gesicht, und neuerdings behauptete sie sogar, sie erwarte ein Kind von Harry (Bruno! Die Kinder!), und dieser, zur Rede gestellt, gebrauche nichts als faule Ausreden.
    Nun, diese Sache war für Charlotte klar wie Schifferscheiße. Wenn es ist, wie es ist, dann heißt die Parole: Nischt wie weg.
    Trudchen wird nicht wollen.
    Was? Nicht wollen? Ja worauf wartet sie denn noch? Daß er sie aus dem Hause prügelt?
    Sie denkt, er wird sich besinnen und zu ihr zurückkommen.
    Der? Aber der ist dieser Rothaarigen doch hörig!
    In Heinersdorf-Omas Garten wuchsen Erdbeeren und Schattenmorellen in streng nach dem rechtwinkligen Drahtzaun ausgerichteten Reihen, die Regentonne hatte einen runden Deckel aus Holz, und Blumen wurden in schnurgerade angelegten Beeten vor dem Haus gezogen. Wenn Heinersdorf-Oma anders wäre – zum Beispiel verschwenderisch, aber dieses Wort kann man ja nicht mal versuchsweise auf sie anwenden –, dann hätten die alten Jordans nicht, was sie jetzt gottseidank haben. Sie kackt auf den Pfennig, mag sein. Aber mußte sie das nicht tun, wenn sie endlich

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