Kindheitsmuster
Rein zufällig, hoffst du, hast du in diesen Tagen deutlich und in Einzelheiten deinen eigenen Tod geträumt; richtiger: dein langsames unaufhaltsames Absterben und die Gleichgültigkeit der anderen, besonders eines Arztes, der sich in routinemäßigen Hilfeleistungen und herzzerreißend sachlichen Kommentaren erging; besonders aber deine eigene Unterwerfung unter das Urteil – das lautete: eine Stunde noch – und die ohnmächtige Empörung über deine Unfähigkeit, dich wenigstens in der Todesstunde aufzulehnen gegen die Übereinkunft, daß man keinen übertriebenen Anteil an sich selber nehmen soll, weil man damit – was schlimmer zu sein scheint als Sterben – das Befremden der anderen wecken und ihnen womöglich lästig fallen würde.
Das wäre das Letzte. Jemandem zur Last fallen wäredas Letzte. Charlotte Jordan jedenfalls zog es vor, niemandem Dank zu schulden. Lieber mit fliegenden Fahnen untergehen, als von anderen Hilfe erwarten.
Das Kind – Nelly – erscheint dir allerdings hilfsbedürftig, und du hast es, man kann wohl sagen: vorsätzlich, in diese Lage gebracht. Nun kannst du sie schon mit keinem anderen Namen mehr anreden: Dabei ist es dein Wunsch und Wille gewesen, sie so und nicht anders zu nennen. Je näher sie dir in der Zeit rückt, um so fremder wird sie dir. Und das nennst du merkwürdig? (Und das nennst du aufgeräumt? konnte Charlotte Jordan sagen, wenn sie Nellys Zimmer betrat. Und das nennst du sauber? Und das nennst du aufgegessen?)
Nelly ist nichts anderes als ein Produkt deiner Scheinheiligkeit. Begründung: Wer sich zuerst alle Mühe gibt, aus einer Person ein Objekt zu machen und es sich gegenüberzustellen, kann nur scheinheilig sein, wenn er sich später beklagt, daß er sich diesem Objekt nicht mehr aussetzen kann, daß es ihm immer unverständlicher wird.
Oder glaubst du, man könnte den verstehen, dessen man sich schämt? Den in Schutz nehmen, den man mißbraucht, um sich selber zu verteidigen?
Liebst du sie denn?
O Gott, nein, müßte die richtige Antwort lauten, aber nun kommen dir Zweifel, weil, was man gängig unter Liebe versteht, der Art und Weise nahekommt, wie du sie behandelt hast: ein Netz ihr über den Kopf, nach deinem Muster geknüpft, und wenn sie sich darin verfitzt: ihr Pech. Soll sie auch erfahren, was das heißt: gefangen sein. (Nämlich: eingeklemmt sein zwischen zwei unannehmbaren Alternativen – alternative-los.) Sollsie beizeiten lernen, zu fühlen, was ihr beherrschtes Gesicht ausdrückt. Soll sie die Angst, herauszufallen, auskosten bis zum Grund.
»Sympathie« definiert das Lexikon als »Mitempfinden; Gefühl der Zuneigung und Anteilnahme«. Wie aber – so muß man sich fragen – soll man um Sympathie werben für ein Kind, das anfängt zu stehlen? Und das darin fortfahren wird über Jahre, mit immer geringeren Gewissensbissen? Es handelt sich um Mundraub, aber Charlotte Jordan, unerbittlich in Fällen von Kriminalität, würde den stärkeren Ausdruck wählen, wenn sie je erfahren hätte (doch auch sie kann ja nur sehen, worauf sie gefaßt ist), daß ihre Tochter angefangen hat, sich im Vorbeigehen Konfektstücke aus den Glasbehältern am Ladentisch zu greifen; zuerst von der billigen, später nur noch von der teuersten Sorte. Diebstahl also. Doppelter Bruch von Verboten: Im Wohnzimmer am Fenster sitzen – auf dem Couchende – die gestohlenen Süßigkeiten in sich hineinschlingen und dabei das »Schwarze Korps« lesen.
Denn das »Schwarze Korps« fällt unter die strikten Verbote, die Charlotte erläßt, niemals Bruno Jordan, den das Seelenheil seiner Tochter weniger kümmert. Über die beiden Bände »Der Mann« und »Das Weib« braucht kein Verbot ausgesprochen zu werden. Ihre Aufbewahrung in des Vaters Wäscheschrank unter den säuberlich gestapelten Unterhosen rückt sie wortlos in den Bereich des nicht Existierenden. Die Vorstellung, sie hervorzuziehen und öffentlich zu lesen, kann nicht aufkommen. Die Bände enthalten je eine großformatige Tafel einer nackten Frau und eines nackten Mannes, deren innere Organe sich durch Hochklappen darüberliegenderPapierschichten freilegen lassen. Eine gewagte Sache (so drückt Charlotte sich aus, wenn sie auf ein Risiko zu sprechen kommt); denn die Farben gewisser innerer Organe, welche die Farben der Natur erfolgreich zu übertreffen suchen, können einer überhitzten Phantasie leicht einen andauernden süßlichen Ekel eingeben.
Nelly gibt sich vor sich selber informiert und ist sich zugleich
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