Kindheitsmuster
aus der Kellerwohnungin der Schönhofstraße rauskommen, ein eigenes Häuschen besitzen wollte (Kostenpunkt: 16 000 Reichsmark), endlich was Grünes um sich rum und ihr eigener Herr sein?
Der Hund Bubi, ein nackter brauner Köter, fährt den Kindern zwischen die Beine. Die Hühner sind in ihrem Gehege, die Karnickel in ihren Buchten untergebracht. Alles hat seine Ordnung. Nur Heinersdorf-Opa, den Kopf voller Dummheiten wie immer, führt die Kinder zur Waschküchentür, erweckt in ihnen die Erwartung auf etwas Besonderes, schreit in die leere Waschküche hinein: Schimmel, rum!, bis Bruder Lutz bemerkt, da sei ja kein Schimmel. Da sagt Heinersdorf-Opa: Nee. Ich meine ja bloß, wenn einer drin wär, damit er nicht schlägt.
Solchen Unsinn aber auch immer.
Daß ihr mir nicht mit nem Balg nach Hause kommt! Dies hat Heinersdorf-Oma zu ihren heranwachsenden Töchtern ein ums andere Mal gesagt. Tante Trudchen hat immer schon ein gutes, aber einfältiges Herz gehabt, das bei einer Silvesterfeier ohne weiteres dem Matrosen Karl zufiel, als er ein wenig von der Einsamkeit auf See und ein wenig von seinem Unglück mit Frauen erzählt hatte. Und da passierte es eben: So sagte es Tante Trudchen, die eines Nachts während der Flucht, als sie in einem ausgeräumten Klassenzimmer einer fremden Stadt nebeneinander auf dem Stroh lagen, ihrer sechzehnjährigen Nichte Nelly die tragischen Zufälle und Ereignisse ihres Lebens erzählte.
Es passierte also. Der Matrose verschwand. Tante Trudchen sah sich gezwungen, ihre Leibesfrucht bei einer weisen Frau abzutreiben (meinem ärgsten Feindwünsch ich das nicht!) und diese Tatsache ihrer Mutter zu verheimlichen. Die Nacht mit ihr und der Schwester im gleichen Zimmer. Die Schmerzen. Das Blut. Das zerbissene Kissen. Größere Angst vor der Mutter als vor dem Tod. Die Jordans sind immer eine anständige Familie gewesen.
Kinder hat Tante Trudchen danach nicht mehr bekommen können. Doch Harry Fenske war ein nobler Mensch. Einmal beichtete seine Zukünftige ihm ihre Vorgeschichte, er verzieh ihr und kam nie wieder auf diese Angelegenheit zurück. Nur später eben diese unglückselige Sache mit der Rothaarigen, und daß zu dieser Zeit die Behörden so sehr auf Kinder aus waren. Ein deutscher Mann, hat der Scheidungsrichter gesagt, soll mit der Frau zusammen leben, die ihm Kinder gebären kann.
Nachdem Tante Trudchens Bruder, Bruno Jordan, und Heinersdorf-Opa, ihr Vater, sie aus dem Sündenbabel herausgeholt hatten (halb und halb immer noch gegen ihren Willen); nachdem die Scheidung abgewickelt, die Wohnzimmereinrichtung in Schleiflack mitsamt dem Lieblingsteppich von Tante Trudchen aus Plau am See eingetroffen war, bewohnte sie mit ihrem Adoptivsohn Achim, der gerade zur Schule kam und sich beim Lernen nicht sehr anstellig zeigte, eine Zweizimmerwohnung im dritten Stock eines Hauses in der Hauptstraße. Sie nahm eine Arbeit als Verkäuferin im Textilkaufhaus Bangemann an und kannte alsbald Gott und die Welt. Wenn ihre Nichte Nelly zu ihr kam, sprach sie über alles mit ihr wie mit einer Erwachsenen. Im vierten Kriegsjahr tauschte sie ihr von einer Kundin gegen Butter, die Charlotte gab, Unterwäsche ein. »Reizwäsche«, sagtesie, als sie sie Nelly mit einem wehmütigen Lächeln übergab.
Erst drei Jahre später erhielt Charlotte Jordan Gelegenheit, ihren zweiten Schwager, den Onkel Emil Dunst, mit dem Bannwort »hörig« zu belegen.
Im Fernsehen läuft eine Dokumentation über die Rauschgiftbekämpfung in Amerika. Ein Mädchen namens Barbara wird von einer Kommission ehemaliger jugendlicher Drogenabhängiger dazu gebracht, weinend und schreiend zu rufen: I need help!, weil ihre vollständige Kapitulation die Voraussetzung für mögliche Heilung sei.
Wie sind wir so geworden, wie wir heute sind?
10
Das Kind – Nelly – soll also für dich durchs Feuer gehn. Seine Haut zu Markte tragen. Ist es nicht Selbsttäuschung, zu denken, dieses Kind bewege sich aus sich selbst heraus, nach seinen eigenen Gesetzen? Leben in vorgegebenen Figuren – das ist das Problem.
Das schnurpst, sagte Bruno Jordan, sobald etwas von alleine lief. Sonnabends schnurpste das Geschäft. Es schnurpste der Verkauf von Bananen zu herabgesetzten Preisen. Erwin, der Lehrling, hatte das Lieferrad der Firma Bruno Jordan zu schmieren, daß es schnurpste.
Der Mensch ist das Produkt seiner Umwelt, sagt Bruder Lutz. Keine Bange, das schnurpst: Marionetten.
Das Kind, sobald es schnurpst, ist dein Vehikel. Zu welchem Ende?
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