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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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des Gegenteils bewußt. Ihren Bruder weist sie entschieden zurecht – ohne ihn allerdings bei der Mutter zu verpetzen –, als sie ihn am Drahtzaun zu Terrazzoleger Julichs Grundstück mit der rothaarigen Elli aufstöbert. Sie nennt Elli, die Ältere, entrüstet ein Ferkel (dem Bruder billigt sie sofort die Rolle des Verführten zu) und wird dafür alte Sau geheißen.
    Nachts verlangt Bruder Lutz scheinheilig Aufklärung, damit er sich nicht an Fremde wenden müsse. Er will jetzt mal genau wissen, wie Kinder gemacht werden. Nelly, scheinheilig (wenn ein Wort erst einmal aufgekommen ist!), spielt mit, ziert sich, stellt sich moralisch besorgt und ist zugleich geschmeichelt, verlangt aber jedenfalls Sicherungen. Bruder Lutz gibt sie: Er pocht auf sein absolut unzuverlässiges Gedächtnis. Was man ihm am Abend erzählt, hat er am Morgen spurlos vergessen, darauf kann man Gift nehmen. – Kann er das schwören? – Er kann es, guten Gewissens. Woraufhin noch eine uralte Verabredung aus Kindertagen zu erneuern ist: Wer »danach« noch reden muß, was allerdings sehr unerwünscht wäre, hat die Erlaubnis des anderen durch drei Schläge an die Wand einzuholen. Auch das wird von dem Bruder zugestanden. Dann endlich erfolgt eine in drei, vier Sätzen zu fassende Übermittlungdes ersehnten Wissens, vage Sätze vermutlich, dem Informationsstand entsprechend. Sätze, die bedauerlicherweise verlorengingen, nicht aber der unnachahmliche Tonfall von Bruder Lutzens abschließender Äußerung: Ach so ist das!
    Ein Ton zwischen Enttäuschung und Genugtuung. In der Schwebe. Wenn dir recht ist, war ihm eine allererste Spur männlicher Überlegenheit beigemischt. Und dann nie wieder davon.
    Danach kann es nicht mehr lange gedauert haben, bis Charlotte und Bruno Jordan sich darüber einig wurden, daß ihre Kinder ihres unterschiedlichen Geschlechtes wegen nicht länger in einem Raum schlafen konnten: Das Ereignis war eingetreten, auf das Nelly seit Monaten gewartet hatte und das sie dann, als wüßte sie es nicht zu deuten (scheinheilig!), ihrer Mutter berichtete, worauf sie von dieser um die Schulter gefaßt und »mein großes Mädchen« genannt wurde; nun habe sie erst recht auf sich aufzupassen und immer sehr sauber zu sein. Nelly war knapp dreizehn, und Charlotte fand »das alles verfrüht«; dies sagte sie zu ihrem Mädchen Annemarie, die es Nelly wiedererzählte, und zu Tante Lucie. Nelly durfte am nächsten Tag im Laden nicht auf die Leiter steigen, um die Brote im oberen Fach einzuschichten. Sie empfand darüber eine Befriedigung der Art: Alles geht seinen richtigen Gang.
    Frau Kruse, welche in der oberen Etage des Jordanschen Hauses für fünfundzwanzig Mark Monatsmiete neben Hermann und Auguste Menzel die zweite, kleinere Wohnung – Stube und Küche – bewohnte, mußte also gekündigt werden, der Vermieter und Hausbesitzer Bruno Jordan wollte anderweitig über seine Räumlichkeitenverfügen. Frau Kruse fand ein derartiges Ansinnen in Kriegszeiten unzumutbar und verwies in einem Brief, den natürlich ihr u. k.-gestellter Sohn aufgesetzt hatte (der, nebenbei gesagt, selbst reichlich Wohnraum besaß), auf die entsetzlichen Wohnverhältnisse, die unsere Soldaten im Osten anträfen (sieben Kinder in einem Raum!), worauf Bruno Jordan sich den Vergleich seiner deutschen Kinder mit russischen oder polnischen verbat. Frau Kruse zog aus. Nelly hatte ihr eigenes Zimmer, in dem sie an einem mit schwarzem Wachstuch bedeckten Tisch ihre Schularbeiten machen und dabei aus dem Fenster über die ganze Stadt, den Fluß und die Ebene blicken konnte; die ehemalige Krusesche Küche wurde zum Lagerraum für verknappte Artikel, darunter für Schokolade.
    Zwar war dieser Raum im Normalfall abgeschlossen, doch Nelly wußte sich in den Besitz des Schlüssels zu bringen, sie spezialisierte sich auf Borkenschokolade und wurde mehr als dreist, sie sich anzueignen. Im Bett liegen, lesen und Borkenschokolade essen. Jaja! rufen, wenn die Mutter die Treppe hoch: Licht aus! befiehlt, für Minuten das Licht löschen, es dann mit einem Tuch verhüllen und weiterlesen, manchmal bis ein, zwei Uhr nachts, so daß zufällig so spät vorbeikommende Kundschaft gelegentlich bei Charlotte Jordan die nicht ganz korrekte Verdunklung am Fenster ihrer Tochter beanstandet. – Das war nur gestern mal so spät, sagt Nelly, zur Rede gestellt. Eine Ausnahme, wirklich. Kommt nicht wieder vor.
    Ob Bruder Lutz sich erinnert, wer ihn aufgeklärt hat, oder hat sein Gedächtnis

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