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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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noch schwer gegen die große Scheibe. Auf den Gesichtern der drei Frauen erscheint jener Ausdruck von Widerwillen und Überlegenheit gegenüber dem unzurechnungsfähigen Männlichen, der den Frauen heute so geläufig ist.
    TMÜ ist ein neuer Fachausdruck aus der Biologiestunde und heißt: Tier-Mensch-Übergangsperiode. Da stecken wir mittendrin, sagt Lenka, oder? Mancher mehr Tier, mancher schon mehr Mensch.
    In jener Zeit malte sie zusammengekauerte Menschen in Kapseln, einen jeden für sich. Hin und wieder ein eingekapseltes Paar. Und traurige Selbstporträts. Neulich erzählte sie dir, in welchem Traum oder Alptraum sie lange umherging: Eine Filmkamera beobachtete jede einzelne ihrer Handlungen bei Tag und bei Nacht, und ein großer Kinosaal voller ahnungsloser Leute, die von der Straße hereingekommen waren, einen beliebigen Zweistundenfilm zu sehen, wurde gezwungen, sitzen zu bleiben und ihren, Lenkas, Lebensfilm auf einer riesigen Leinwand zu verfolgen. Tage-und wochenlang. Lästig war kein Ausdruck, sagte sie, für diese Leute und, wie du dir denken kannst, auch für mich. – In solchem Augenblick den Ausruf: Das kenn ich! zurückzuhalten ginge wohl über Menschenkraft. Sie zog die Augenbrauen hoch: Was heißt das? Du hast auch das Gefühl gehabt, gefilmt zu werden? – Das nicht. So technisch dachte ich nicht. Das Kamera-Auge war in meinem Fall Gottes Auge und das Dauerpublikum Gottvater selbst. – So lange hast du also an Gott geglaubt. – Geglaubt hört sich an, als wäre Nichtglauben möglich gewesen, aber das war es nicht. Was übrigens ist der Unterschied zwischen dem Auge Gottes und dem deiner Kamera?
    Darüber wollte Lenka nachdenken.
    Vielleicht können wir nichts anderes tun, als den nach uns Kommenden unsere Behinderungen zu vermelden. Davon reden, was einem geschieht, wenn alle Wege, die einem offenstehen, in falsche Richtungen führen. Vielleicht sollte es dir um Verluste, die Nelly erlitt – unwiderruflich erlitt, wie du heute weißt –, doch leid tun. Vielleicht sollte es dir leid tun um das Kind, dassich damals verabschiedete: von niemandem gekannt und als dasjenige geliebt, das es hätte sein können. Das sein Geheimnis mitnahm: das Geheimnis von den Wänden, in die es eingeschlossen war, die es abtastete, um jene Lücke zu finden, die ihm etwas weniger Angst machte als die anderen – aber doch auch noch Angst genug.
    Eine Angst, die sich damals in einem durchdringenden, andauernden Gefühl von Selbstfremdheit zu erkennen gab und deren Spur eben darin besteht, daß sie die Spuren löschte: Einem Menschen, der nicht auffallen will, fällt bald nichts mehr auf. Der entsetzliche Wille zur Selbstaufgabe läßt das Selbst nicht aufkommen.
    Lutz und Lenka stritten sich, du hattest den Zusammenhang verloren. Lutz sagte, sich gegen das Bestehende aufzulehnen, könne natürlich heroisch sein; aber es habe doch immer einen Beigeschmack von Komik. Das Bestehende beweise einfach durch seine Existenz sein Recht auf Bestand.
    Wie kamt ihr darauf ? fragtest du.
    Von TMÜ her, sagte Lenka. Lutz ist ja konservativ. – Realistisch, sagte Lutz. Während ihr Romantiker seid.
    Als ihr aus dem Café kamt, war dir elend. Nicht weit von dem Punkt, an dem ihr wieder in euer Auto stiegt, nicht mehr als drei Minuten entfernt, muß in der ehemaligen Franz-Seldte-Straße die Gaudienststelle der Hitler-Jugend gelegen haben, ein zweistöckiges Haus, das du zur Not wiedererkannt hättest. Nelly hat es nie ohne Herzklopfen betreten und nie ohne Erleichterung verlassen. Zeit hättet ihr gehabt, wenn es nun auch später als sechzehn Uhr war und ihr endlich in euer Hotel wolltet. Niemand hätte widersprochen, wenn du denkleinen Umweg vorgeschlagen hättest. Aber es fiel dir nicht ein.
    Ein Versäumnis, das du erst heute bemerkst.

11
    Endlösung.
    Es ist nicht mehr festzustellen, wann du dieses Wort zum erstenmal gehört hast. Wann du, als du es hörtest, ihm den Sinn gabst, der ihm zukommt; Jahre nach dem Krieg wird es gewesen sein. Noch später aber – bis heute – hast du bei jedem stark qualmenden hohen Schornstein »Auschwitz« denken müssen. Der Schatten, den dieses Wort warf, wuchs und wuchs. Sich ohne Rückhalt in diesen Schatten stellen gelingt bis heute nicht; denn die Vorstellungskraft, sonst nicht faul, schreckt vor dem Ansinnen zurück, die Rolle der Opfer zu übernehmen.
    Für immer sind die Betroffenen von den Nichtbetroffenen durch eine unüberschreitbare Grenze getrennt.
    Am 31. Juli des Jahres 41 –

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