Kindheitsmuster
Zeitgenossenam nächsten Stehende. Der sich der staatlicherseits vorgeschriebenen Umwertung aller Werte vollkommen unterwarf und der bis zu seinem Ende seine Schuld nur in seinem Gehorsam sah – und dieser sei ihm doch als Tugend anerzogen worden.)
Deiner Erinnerung nach war es im Winter, als Herr und Frau Studienrat Lehmann, langjährige Kunden des Jordanschen Geschäfts, eines Nachmittags mit Charlotte im Herrenzimmer saßen und, mehr und mehr sich erregend, von ihrer Herkunft zu reden begannen. Merkwürdiger- und unerklärlicherweise hat Nelly die ganze Zeit über dabeigehockt, vermutlich auf Wunsch der Mutter, die dem Studienratsehepaar ihre Tochter als Schülerin hatte offerieren wollen und nicht voraussehen konnte, welchen Verlauf das Gespräch nehmen würde. Aber es lag Studienrat Lehmann sehr, sehr am Herzen, zu beteuern, daß seine Dispensierung aus dem Schuldienst wegen angeblicher rassischer Unzuverlässigkeit auf einem verhängnisvollen Irrtum beruhe, den er, Lehmann, in einer Fülle von Eingaben an die zuständigen Behörden, zuletzt an Herrn Himmler persönlich, aufzuklären sich bemühte.
Studienrat Lehmann trug Kopien der Dokumente bei sich (und zwang Charlotte Jordan gegen deren Wunsch, sie einzusehen), aus denen zweifelsfrei hervorging, daß die – allerdings jüdischen – Eltern, die ihn aufgezogen hatten, nie und nimmer seine natürlichen Eltern gewesen waren; daß vielmehr eine fast lückenlose Beweiskette für seine Behauptung sich erbringen ließ, ein schlichtes Mädchen rein arischen Blutes, inzwischen leider verstorben, sei seine uneheliche Mutter gewesen. Ein Mädchen, das zu intimerem Umgang mit nichtarischenMännern keine, aber auch gar keine Gelegenheit gehabt hätte. Was ihn, Lehmann, betreffe, so sehe er dem Ergebnis der Untersuchung mit allergrößter Ruhe entgegen.
(»Kälte wie noch nie ist eingedrungen.«)
Nelly vergaß nicht die weißen, flatternden Finger, wie sie in den Papieren herumfuhren, und das gespenstische Gelächter, das Studienrat Lehmann anschlug, als er fragte, ob er denn vielleicht aussehe wie ein Jude? Studienrat Lehmann hatte ein helles, rundes, etwas teigiges Gesicht und spärlichen rotblonden Haarwuchs, und Charlotte Jordan bestätigte ihm hastig, so sah kein Jude aus. Sie beeilte sich dann, das Gespräch auf die Kochkiste zu bringen, die die Lehmanns nach den Stromsparempfehlungen der Presse konstruiert hatten (Rubrik: Kampf dem Kohlenklau!). Frau Studienrat Lehmann, Fremdsprachenlehrerin wie ihr Mann, im Zuge der Sippenhaftung ebenfalls vom Schuldienst suspendiert, hatte es in der Handhabung dieser Kochkiste zu beachtlicher Fertigkeit gebracht und war bereit, Interessenten ihre Tricks zu verraten.
Nelly hatte nichts dagegen, daß Herr Lehmann ihr die Aussprache des englischen Konsonanten »r« beibrachte, die ihr nun mal nicht gelang. Einsichtig unterwarf sie sich an Lehmanns ovalem, mit einer Filethäkeldecke belegtem Wohnzimmertisch den Zungenübungen, die, obwohl das Zäpfchen-R ihr unerreichbar blieb, zu einem befriedigenden Ergebnis führten. Übertrieben wäre die Behauptung, sie habe keinen Augenblick vergessen können, daß ihr Lehrer unter dem Verdacht stand, Jude zu sein. Doch er selbst mit seiner übermäßigen Freundlichkeit, die bis zur Unterwürfigkeit ging, ließ keine Unbefangenheitaufkommen. Der Schweiß lief ihr von den Händen, wenn sie Herrn Lehmann gegenübersaß, und durchfeuchtete ihr Englischbuch. Sie wurde das Gefühl nicht los, daß der Lehrer Angst vor ihr habe, und sie begriff, daß sie ihm diese Angst auch durch ihrerseits übertriebene Freundlichkeit nicht nehmen konnte. Jedes Wort, das zwischen ihnen gewechselt wurde, kam ihr falsch vor. Aber es war undenkbar, die Qual dieser Stunden einfach zu beenden, da ja die Lehmanns sich jetzt durch Stundengeben über Wasser halten mußten.
Nelly beneidete Bruder Lutz, der, unbeschwert von Gefühlszwiespalt, sich von Herrn Lehmann das Lispeln abgewöhnen ließ, indem er ein einziges Mohnkörnchen mit der Zungenspitze so lange in seiner Mundhöhle umhertransportierte, bis die Zunge von selber die Stellung fand, in der das scharfe S gesprochen werden kann.
Daß die Mutter Mut bewies, ihre Kinder zu den Lehmanns zu schicken, bedachte Nelly damals nicht. Sie habe es skandalös gefunden, sagte Charlotte später, wie man zwei bewährten Lehrern ihre langjährigen treuen Dienste dankte. Sie hätten ihr auch leid getan. Ob sie es glaubte oder nicht, was der Studienrat mit seinen Papieren zu
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