Kindheitsmuster
denen es übel roch), und sie bedankten sich unter Tränen für die schönen Geschenke, und manche machten Anstalten, den jungen Fräulein die Hände zu küssen. Nelly ging nicht gerne in die Baracken, aber sie sah ein, daß sie sich nicht davor drücken durfte.
Auf Seite 207 in Lenkas Schulbuch im Format 14 × 9 eine »Karte der faschistischen Konzentrationslager in Europa während des zweiten Weltkrieges«. Auf dieser Karte gibt es keine Städte. Bezeichnet sind Nord- und Ostsee und die großen Flüsse, namentlich benannt sind die sechzehn durch größere schwarze Punkte als Hauptlager kenntlich gemachten KZs. Fünf von ihnen sind durch Unterstreichung als Vernichtungslager gekennzeichnet. Die Karte ist gesprenkelt von kleinen Punkten (»Nebenlager«) und Kreuzchen (»Ghettos«). Du spürtest körperlich, wie Lenka zum erstenmal begreift, in welcher Landschaft ihre Mutter ihre Kindheit verbracht hat. Die geographische Lage der Vernichtungslager Chelmno, Treblinka, vielleicht auch Majdanek, macht die Annahme wahrscheinlich, daß Transporte mit Menschen, die für diese Lager bestimmt waren, auch über L. geleitet wurden, das ja an der Ostbahnstreckelag. Die für Auschwitz und Belzec bestimmten Züge werden die südlichere Streckenführung benutzt haben. Niemals hat Nelly von einem ihrer Landsleute hierüber ein Wort gehört, während des Krieges nicht und auch nicht danach. Aus ihrer Familie arbeitete niemand mehr bei der Deutschen Reichsbahn.
Soviel sie wisse, sagt Lenka, hatten die allermeisten aus ihrer Klasse – letzten Endes auch sie selbst – diese Karte nicht allzu gründlich, jedenfalls ohne tiefe Anteilnahme betrachtet. Es sei, sagt sie, nicht das Gefühl in ihnen aufgekommen (oder erweckt worden, denkst du), diese Karte ginge sie mehr an als andere Dokumente in diesem Buch. Dein heftiges, mit Mißfallen gemischtes Erstaunen fällt in sich selbst zurück, als ihm in dir die Frage begegnet, ob es denn eigentlich zu tadeln, ob es nicht vielmehr zu wünschen sei, daß diesen Kindern kein Schuldgefühl mehr aufkommt, welches sie zwingen könnte, die Karte genauer anzusehen. – Bis ins dritte und vierte Glied – die grausige Formel des Rachegottes. Aber darum geht es nicht.
Du hast sie, wie sie scharenweise über den früheren Appellplatz auf dem Ettersberg zogen, ungerührt ihre Frühstücksbrote und Äpfel essen sehen – ein Anblick, der nicht Empörung, sondern Staunen und Bangigkeit in dir weckte. Es hat dir auch jemand zu erklären versucht, daß es zweckmäßig, material- und kostensparend gewesen sei, die ehemaligen SS-Kasernen beim Lager Buchenwald in eine Art von Touristenhotel umzubauen. Er sprach nicht direkt von Gastfreundschaft, aber darauf lief doch hinaus, was er sagte, und die Frage, ob er wirklich glaube, jemand – ein ausländischer Tourist zum Beispiel – könne bei Nacht in diesemHause ein Auge zutun, verstand er nicht. Ehrlich, sagte er, das versteh ich nicht. Deinen Vorschlag, heutige Besucher des ehemaligen Konzentrationslagers sollten gehalten sein, für die wenigen Stunden ihres Aufenthaltes an dieser Stätte auf Essen und Trinken, Gesang und Kofferradiomusik zu verzichten, fand er lebensfremd. Ehrlich, sagte er, das geht an der Wirklichkeit vorbei. Man muß die Menschen nehmen, wie sie sind.
Wann mag der Nachhilfeunterricht bei Studienrat Lehmann gewesen sein? Jedenfalls nach dem 31. Juli 1941. Sicherlich auch nach jenem 20. Januar 1942, dem Tag der sogenannten Wannsee-Konferenz, an der nun endlich Adolf Eichmann teilnehmen darf (wenn auch als Rangniedrigster) und – zu seiner unaussprechlichen Beglückung – die Staatssekretäre aller einschlägigen Ministerien und andere hohe Chargen in fast euphorischer Einmütigkeit jenem Plan zustimmen sieht, dessen Durchführung ihm Gelegenheit geben soll, sein ganzes Können und all seine Talente zu entfalten: Europa »von Westen nach Osten« auf Juden »durchzukämmen«.
(Adolf Eichmann, Lenka, erkundige dich nach ihm. Der Mann, der es nicht ertrug, erfolglos zu sein; der sich bis zu seinem Ende, auch über seinen eigenen Tod, in Redensarten erging: Meister und Opfer jener tödlichen Art von Sprachregelungen, die den einen die ersehnte absolute Gleichschaltung, den anderen die Vernichtung bringen durch jene, die mit Hilfe der gewissenlos gemachten Sprache morden können, ohne Gewissensbisse zu empfinden. Weil sie nur noch empfinden können, was erwünscht ist. Adolf Eichmann als der Gefährlichste, dem »normalen« Verhalten von
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