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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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beweisen suchte, das wußte sie nicht mehr so genau. Jedenfalls drohte ihren Kindern von diesen Leuten keine Gefahr, soviel stand für sie fest. Und höheren Orts hätte sie im Falle eines Verhörs steif und fest behauptet, Studienrat Lehmanns Unterlagen hätten sie von seiner arischen Abstammung überzeugt.
    Nelly hat gegen den Mann, der vielleicht ein Jude war, keine Abneigung empfunden. Daß er ihr leid tat, gestand sie sich nicht ein. Ein durchdringendes Gefühl von Peinlichkeit vergiftete ihr die Zusammenkünfte, jehäufiger Studienrat Lehmann es für nötig hielt, die Berichte des Oberkommandos der Deutschen Wehrmacht mit zustimmenden Kommentaren zu versehen. Der Russe zwingt den Deutschen nie, sagte er, und Nelly, die aus vollem Herzen seiner Meinung war, mußte sich doch fragen, ob nicht wiederum die Angst es war, die ihn zu solchen überbetonten Äußerungen trieb.
    Es war ihr unsagbar widerwärtig, wenn man vor ihr Angst hatte. Aber ganz undenkbar wäre es ja gewesen, dem Studienrat durch ein offenes Wort – zum Beispiel: Aber seien Sie doch ruhig, ich glaube Ihnen ja! – ein für allemal die Angst zu nehmen. Gerade so ein Wort hätte die Peinlichkeit auf die Spitze getrieben und einer Flut gegenseitiger Beteuerungen Tür und Tor geöffnet.
    Eine junge Frau, die damals noch nicht geboren war, erzählte dir vor wenigen Tagen eher beiläufig, sie habe, nach einem vortägigen Saunabad in einer sehr engen Badezelle, nachts zum erstenmal in ihrem Leben geträumt, sie werde vergast. Merkwürdigerweise habe sie dabei ein Kind auf dem Arm gehabt, ihr Kind, obwohl sie doch kinderlos sei ... Danach habe sie nicht wieder in die Sauna gehen können. Dumm von ihr, sicherlich. Aber es sei so über alle Maßen schrecklich gewesen, im Traum.
    Von Heinrich Himmler weiß man, daß er ein strenger, genauer, frommer Mann gewesen ist. Genauso könnte man den Vater des Rudolf Höß beschreiben, jenes ersten Kommandanten von Auschwitz, dessen Aufzeichnungen du genau vor einem Jahr (wir schreiben inzwischen März 1974) zum erstenmal gelesen hast, und zwar während eines Kuraufenthaltes mit Diätvorschriften, langen Spaziergängen, sportlichen Übungen, Saunabädern(dies war das Stichwort für die Assoziation) und Massagen. (Zuerst müssen die Eltern von Massenmördern dasein, ehe es Massenmörder geben kann.) Das Buch, welches die Bibliothek nur ausnahmsweise entleiht, lag auf dem kleinen weißen Tischchen. Die Lektüre zog sich in die Länge, du schaltetest andere Bücher ein. Die Ärzte, die auch den Lesestoff der Patienten zu begutachten pflegten, wogen das Buch in der Hand, legten es zurück, hatten nichts einzuwenden. Die meisten von ihnen sind inzwischen jünger als du, manche Namen, die sich deiner Generation eingeprägt haben, sagen ihnen nichts mehr.
    Es wäre sicher zuviel gesagt, daß du in dieser Lektüre unbewußt nach einem Mittel gesucht hättest, dir deine Arbeit, diese hier, selber aus der Hand zu schlagen. Nur warst du unglücklicherweise aus Mangel an technischen Schreibhilfen gezwungen, mit eigener Hand Auszüge aus diesen Aufzeichnungen zu machen, die ihr Urheber, eben der Kommandant von Auschwitz, in den Monaten von seiner Hinrichtung in einem polnischen Gefängnis niederschrieb. Es geschah nichts Auffallendes, wie das Versagen der Hand. Jene vernünftige innere Instanz funktioniert weiter, die auch dazu da ist, auseinanderzuhalten, was bei Strafe des Verrücktwerdens nicht vermischt werden darf. Sie trennte den Vorgang des Abschreibens von dem des Schreibens; die Vorstellung dessen, was hätte sein können, von der Erinnerung an wirklich Geschehenes; die Vergangenheit – soweit das möglich ist – von der Gegenwart. Das heißt, sie hielt die Kommandohöhen besetzt, die unsere geistige Gesundheit kontrollieren.
    Worüber sie keine Macht hatte: die geheime Zersetzungdurch das schleichende Gift der Verzweiflung. Was sie nicht verhindern konnte, waren kleinere, nicht das ganze Gefüge gefährdende Fehlleistungen, wie: gewisse Träume, nach denen an Schlaf nicht mehr zu denken ist; plötzliche, unvorhersehbare Verwandlungen harmloser Szenen ins Grauenhafte (wenn, ein Beispiel zu nennen, in der Schlange der vor der Küchenklappe Wartenden die Redewendung »bis zur Vergasung« fiel); der erneut aufkommende Zwang, Personal und Belegschaft des Krankenhauses nach dem Gesichtspunkt ihrer Verwendbarkeit als Komplicen bei Massenverbrechen einzuteilen: ein Begriff, der ja nicht nur das Verbrechen an Massen, sondern

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