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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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tun. Daran ist noch keiner gestorben.
    Natürlich stirbt man nicht daran, daß man die Zehn Gebote auswendig lernt: Du sollst Gott fürchten undlieben ... Pfarrer Grunau hat eine ölige Stimme, die im gleichen frommen Text urplötzlich einen drohenden Ton annehmen kann. Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen – die Länge dieses Satzes reicht aus, des Pfarrers Stimme demütig, dann erstaunt, enttäuscht, drohend, strafend klingen zu lassen, bis er die Bänke der Volksschüler erreicht, bis er Lieselotte Bornow, die sich heimlich die Fingernägel säubert, mit seinem Katechismus auf die Finger geklopft hat. Nelly ist einfach nicht imstande, sich von ihm erklären zu lassen, daß und warum sie nicht ehebrechen soll.
    Ziemlich wahrscheinlich übrigens, daß sie ihm gegenüber unfair war. Fair! Falls es ein Warnsignal ist, wenn unpassende Wörter sich in den Text schmuggeln: Was tun? Schärfer aufpassen oder aufhören? Warten, bis du dorthin zurückgekehrt bist, wo es für »fair« keine genaue Entsprechung gibt; wo es zwar etwas wie »gerecht, ehrlich, anständig« bedeuten kann (thank you, Mr. Random!), aber gewiß nicht »schön, blond, hellhäutig«? Wo also die Konzentration auf die Arbeit nicht beeinträchtigt wird von Befremden über eine Sprache, die sich nicht scheut, nur die Blonden, Hellhäutigen unter ihren Anhängern für gerecht, ehrlich, anständig zu erklären. Und für schön.
    Irritation. Ein einziges Wort, das zu deinem Wortschatz nicht gehört hat, passiert unbeanstandet die Kontrollbehörden. Die Filter, die in den ersten Tagen Ungewohntes streng zu kritischer Kenntnisnahme zurückhielten, scheinen durchlässiger zu werden. Wohin kann das führen?
    Und was hast du erwartet? Daß ein Ozean, der zu überqueren war, dir nichts anhaben könnte? Daß einederart drastische Ortsverschiebung dich nicht stören könnte beim Passieren der verschiedenen Zeitzonen, an die du dich fast gewöhnt hast? Daß sie dich bei jenem Weg zurück, der sich nicht in Meilen und nicht in Kilometern, aber letzten Endes doch nur mit europäischem Maß messen läßt, gar nicht behindern würde?
    Man weiß: Elektrische Reizungen des Gehirns zwischen Hinterhaupt-, Schläfen- und Scheitellappen aktivieren Episoden aus der Kindheit, die dann, von optischen und akustischen Halluzinationen begleitet, wie ein Filmstreifen zeitrichtig ablaufen sollen. Geruchshalluzinationen scheinen weniger vorzukommen. Aber für Nelly verbindet sich Maiglöckchenduft unweigerlich mit dem Bild eines weißen, gestärkten und gefalteten Taschentuchs, das über ein schwarzes Gesangbuch gelegt ist. Mit Orgelmusik. Mit einem langen Gang zwischen Kirchenbänken, an dessen Ende der Altar der Marienkirche steht. Mit einem gehemmten, widerwilligen Schreiten – schreiten! nicht trampeln! flüstert Pfarrer Grunau – auf Steinfußboden.
    Die Marienkirche habt ihr übrigens nicht betreten. Zweimal, am Abend des 10. und am Abend des 11. Juli 71, habt ihr es versucht, vom Osttor aus, vor dem sich auch die Konfirmanden, Nelly unter ihnen, an einem Aprilsonntag des Jahres 1943 versammelt hatten. Doch am Sonnabend war das Tor geschlossen, und am Sonntagvormittag versperrt die Menge der Gläubigen, die bis auf die Straße steht, den Zugang müßigen Zuschauern, die vielleicht nur eine Erinnerung auffrischen wollen. Gesang drang von drinnen nach draußen und wurde, dünn und zaghaft, von den Menschen an den Türen aufgenommen, die euch den Rücken zukehrten.(In Philadelphia, in der schwarzen Methodistenkirche, drehte sich die ganze Gemeinde nach euch drei Weißen um, als der Pfarrer von der Kanzel herab eure Namen und euer Herkunftsland nannte und die Nächstsitzenden bat, euch zu begrüßen. Sie streckten euch die Hände hin und lachten, und auf einmal hatte das leise gemurmelte »So glad to see you!« einen Sinn.)
    Wie an der Schnur gezogen, fuhren alle Köpfe in den dicht besetzten Bankreihen der Marienkirche nach hinten, als der Zug der Konfirmanden den Kirchengang hinunterkam, auf den blutroten Läufer zu, der die Altarstufen bedeckte und auf dem sie dann paarweise niederknien würden, wie sie es gestern noch geübt hatten. »Wie soll ich dich empfangen«, spielt die Orgel und singt die Gemeinde. Die Konfirmandinnen sind von der Sorge erfüllt, ob ihnen beim Niederknien kein Strumpfband reißen wird, ob sie sich an der trockenen Oblate und dem sauren Wein nicht verschlucken werden. Bei euch muß man buchstäblich auf alles gefaßt sein, hat

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