Kindheitsmuster
Pfarrer Grunau zu ihnen gesagt. Benehmt euch um Himmels willen wie Menschen, solange man euch sehen kann.
Da sind sie wie die Lämmer, schreiten und singen und antworten, wie es sich gehört, einzeln und im Chor: Ja, das glaube ich, treten, ohne zu stolpern, vor den Altar, knien nieder, verschlucken sich nicht am Leib und Blut des Herrn, lassen sich Pfarrer Grunaus weiße Hand segnend auf den Scheitel legen, erheben sich und wandeln fromm um den Altar herum. Hinter ihm aber – als die Tafel vom Leidensweg des Gekreuzigten, der ihnen jetzt den Rücken zudreht, sie den Blicken des Pfarrers und der Gemeinde entzieht –, hinter dem Altaralso schmeißen sie plötzlich die Arme hoch, biegen sich in lautlosem Gelächter, schneiden sich gräßliche Grimassen (dabei ohne Stockung weitergehend) und tauchen nach zehn, zwölf Sekunden brav mit unschuldsvoll gesenkten Blicken von der anderen Seite her neben dem Altar wieder auf.
Dann war ja noch Hoffnung, meint Lenka.
In dem Restaurant am Markt von G., in dem abends fast nur Einheimische sitzen – meist jüngere Männer, die schon in dieser Stadt geboren sind, die rauchen und Bier trinken, die hinter Lenka hersahen und ihr anboten, ihretwegen an der Theke zusammenzurücken –, an dem Fenstertisch, an dem ihr schließlich doch noch Plätze fandet und zu ein paar mit Fleischsalat und Schinken belegten Brötchen kamt, ergab sich ein Gedankenaustausch über die Lückenhaftigkeit des Gedächtnisses. An die Verrenkungen hinter dem Altar konntest du dich erinnern, Stalingrad aber, das ja damals erst zwei Monate lang vorüber war, hatte sich nicht tief eingeprägt. (»Mythos Stalingrad!« hatte der »General-Anzeiger« am 4. Februar geschrieben, und etwas später: »Der Opfergang der 6. Armee – heilige Verpflichtung für uns alle!«) Was Nelly behielt: Daß Fräulein Schröder, die Handarbeitslehrerin, in die lärmende, tobende Klasse hereinstürzte und sie anfuhr: Ob sie sich nicht schämten. Unsere deutschen Soldaten sterben bei Stalingrad, und ihr lacht und singt.
Das ist alles. Der totale Krieg wiederum ist akustisch in deinem Kopf verankert: Die Goebbels-Stimme aus dem Radio, die heulend schreit: Nun, Volk, steh auf! Nun, Sturm, brich los!
Aber kein noch so schwacher Anhaltspunkt dafür,daß die Namen Sophie und Hans Scholl, die ja immerhin in den Zeitungen standen, je in Nellys Gegenwart erwähnt worden sind. Daß jemals die Rede gewesen ist vom Aufstand der jüdischen Bevölkerung im Warschauer Ghetto, der in jenen Tagen, da Nelly vor ihrem christlichen Altar niederkniete, auf seinem Höhepunkt gewesen sein muß. (Und wenn nun die Schwarzen in ihren Ghettos sich eines Tages doch erheben? fragst du einen weißen Amerikaner. Bedauernd sagt er: Sie haben keine Chance. Weil sie doch schwarz sind. Man erkennt sie ja. Jeder einzige von ihnen würde abgeknallt.)
Nellys Einsegnungskleid war dem Brauch entsprechend schwarz, aus Seidentaft, von Schnäuzchen-Oma genäht. Um den spitzen Halsausschnitt herum eine weiße Rüsche: Das hebt. Als das Mittagessen mit allen Verwandten vorbei war – Nelly saß an der Stirnseite des Tisches, ihr Platz war mit grünen Tannenzweigen geschmückt, Schnäuzchen-Oma hatte drei Kaninchen geschlachtet –, da wurde sie traurig. Die Männer saßen rauchend im Herrenzimmer und besprachen die Kriegslage. Die Frauen wuschen das Geschirr ab und schnitten Kuchen auf. Bruder Lutz war im Kinderzimmer in eine verzwickte Konstruktion aus seinem Stabilbaukasten vertieft. Nelly saß im Eßzimmer im Sessel und legte die Hände in den Schoß.
Jaja, sagte Schnäuzchen-Oma. Vorfreude ist immer die reinste Freude.
Die Mutter aber hängte sich ans Telefon und lud Cousine Astrid und Nellys Freundin Hella ein. Zum Kaffee. Damit sie Gesellschaft hat. Schließlich ist es ja ihr Fest.
Gleichzeitig mit Astrid und Hella kam Unteroffizier Richard Andrack, Fotograf.
Lutz, an Andrack mußt du dich noch erinnern! – Mensch, war das nicht dieser verrückte Hund, der auf deiner Einsegnung den großen Zauberer markiert hat? – Markiert ist gut. Weißt du noch, wie es anfing?
(In der Gaststätte am Markt in G. ist es abends laut, besonders sonnabends, wenn die Mädchen der jungen Männer hereinkommen und sich an die Fenstertische setzen und rauchen und keinen Blick zur Theke werfen, während die Burschen anfangen, sich im Lärmen zu überbieten. Da versteht man sein eigenes Wort nicht mehr. Lenka aber wollte es nun genau wissen: Wieso ein verrückter Hund?)
Zuerst hat
Weitere Kostenlose Bücher