Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
wieder von diesem Tischzu lösen. Jetzt schon fühlten sie doch, wie die Hände schwer würden, und immer schwerer, von Sekunde zu Sekunde schwerer, und nun schwer wie Blei. Als lasteten Zentnergewichte auf jeder Hand. Als fließe durch ihre Adern schweres Metall an Stelle des leichten Blutes. Als seien sie an der Tischplatte festgeschraubt. Damit sei es erreicht: Sie können ihre Hände, selbst wenn sie es mit aller Kraft versuchten, nicht mehr anheben.
    Also: Versuchen Sie es!
    Nelly, die heimlich schon lange ihre Hände Bruchteile von Millimetern über der Tischplatte hatte schweben lassen, riß sie hoch und andere mit ihr. Heinersdorf-Oma aber, Tante Liesbeth und die längst geschiedene Tante Trudchen, vor allem jedoch Cousine Astrid saßen festgenagelt, sosehr sie mit hochroten Köpfen an ihren Händen reißen und zerren mochten.
    Nun sehen Sie, sagte höflich und ungerührt Herr Andrack, wie sehr meine Vermutung zutrifft, drei gute, ein sehr gutes Medium. Er behielt für sich, wen er für das »sehr gute« Medium hielt. Vorerst strich er den vier Frauen leicht über die Handrücken und erlaubte ihnen in taktvoll beiläufigen Worten, sich vom Tisch zu lösen und sich ganz und gar frei zu fühlen. Man möge ihm den kleinen Scherz vergeben und ihm erlauben, sich zurückzuziehen.
    Aber Herr Andrack, wo denken Sie denn hin! Charlotte als Gastgeberin sprach aus, was alle fühlten. Man rechne mit ihm natürlich noch zum Abendbrot, da er in gleichem Maß als Freund des Hauses wie als bewährter Fotograf geladen sei. Zum anderen aber ...
    Herr Andrack, bescheiden lächelnd, verneigte sichnach allen Seiten. Zu liebenswürdig, die Herrschaften. Nun denn, ich bin so frei.
    Richard, sagte Bruno Jordan da, du kannst doch auch Gedanken lesen!
    Nun ja, so würde man es als Laie wohl nennen. Ein Fachmann würde sich etwas anders ausdrücken, nämlich: Es sei ihm gegeben, gedanklich übermittelte Aufträge zu entziffern und, soweit möglich, auszuführen.
    Als da wären? fragte Alfons Radde herausfordernd.
    Bescheidenste Vorgänge, Herr Radde. Beileibe nichts Außerordentliches. So könnte ich, falls Sie mich in Gedanken darum bitten sollten, Ihrer Frau Gemahlin die Kette vom Hals nehmen und sie Ihnen, soweit gewünscht, überreichen.
    Na das wolln wir doch mal sehn.
    Onkel Walter, hinreichend unparteiisch und seiner fünf Sinne mächtig, wird Herrn Andrack als Wache beigegeben. Er nimmt es auf seinen Eid, daß man im Kinderzimmer nicht hat hören können, was im Eßzimmer besprochen wurde. Onkel Walter Menzel, inzwischen Betriebsleiter bei Anschütz & Dreißig, hält Spiele wie dieses für abwegig und lehnt jede Verantwortung für etwaige Folgen ab. Komm, komm, sagt Tante Lucie und umfaßt ihren Mann »schäkernd« (so nennt es die Familie: Tante Lucie schäkert nun mal gerne). Sei kein Frosch!
    Richard Andrack wird keineswegs unheimlicher, wenn er Gedanken liest. Das Wort »dämonisch« könnte einem nicht in den Sinn kommen. Zwar hält er die Augen nun bis auf einen schmalen Spalt geschlossen, und mit seiner rechten Hand umfaßt er leicht das Handgelenk von Cousine Astrid, die beauftragt ist, die Wünscheder Festrunde Herrn Andrack auf dem Gedankenwege kundzutun. Konzentrieren, Fräulein Astrid! bittet er. Scharf denken. Schärfer! Noch schärfer! Aha ...
    Nein: Astrid »führte« Herrn Andrack nicht. Ihr war eingeschärft, sich geistig anzuspannen, körperlich aber schlaff zu machen, so daß Andrack sie hinter sich herschleifen muß, wenn er nun darangeht, ihre Gedankenbefehle auszuführen. Um es vorwegzunehmen: Der Gedankenleser hatte sich zum Klubsessel zu begeben, in dem Tante Liesbeth Platz genommen hatte; er sollte das dreifarbig geflochtene Seidenband aus ihrer Hand nehmen, zum Bücherschrank im Herrenzimmer damit gehen, um es dort zwischen die Seiten eines bestimmten Buches zu legen, aus dem er dann noch eine ebenfalls festgelegte Textstelle zum besten zu geben hatte: Ein schwieriger, zusammengesetzter Auftrag zweifellos, den Astrid natürlich in seine einzelnen Bestandteile zu zerlegen und nur nach und nach an den Fotografen zu übermitteln hatte. Zuerst, beispielsweise, hat sie gar nichts anderes gedacht als immer nur: Rechts, rechts, rechts. Bis eben Herr Andrack zu Tante Liesbeth unterwegs war, die er dann, immer halb geschlossenen Auges, mit seiner freien linken Hand, die schlafwandlerisch suchende Bewegungen ausführte, von oben nach unten abtastete – ohne sie natürlich im mindesten zu berühren –, bis

Weitere Kostenlose Bücher