Kindheitsmuster
Andrack getan, was seines Amtes war: Er hat fotografiert. Mit Blitzlicht natürlich. Der Sonntag war kalt und trübe, auf Außenaufnahmen wurde verzichtet. Gruppenbilder im Herrenzimmer auf der Couch, dann die Konfirmandin mit Eltern, mit Paten, allein. Ihr Haar war gewachsen, es legte sich zu einer sanften Innenrolle. Aus dem rüschenbesetzten Puffärmel kommt hölzern ihr Arm. Anmutig war dieses Mädchen nicht. Ihr Gesichtsausdruck – man sieht ja, sie tut ihr Bestes, »recht freundlich« zu sein – hat dich immer peinlich und zugleich schmerzlich berührt. Die fast dümmliche Grimasse. Der zugleich erschrockene und abweisende Augenausdruck. Das Ungeschick der Gliedmaßen, die nachlässige Haltung. Vor allem aber die unbewußte Trauer, die über der Figur liegt. Eine Vierzehnjährige, die nicht weiß, mit welchen Wörtern und im Namen welcher Götter sie ihre Trauer ausdrücken soll. Die sich im Namen der Götter, denen sie sich unterwirft, für diese heimliche Trauer bestrafen muß.
The Persistence of Memory. Jenes berühmte Bild vonSalvador Dalí, dem du im Museum of Modern Art (11 West 53rd Street, New York) unverhofft gegenüberstandest. Es zeigt, was man nicht für möglich halten würde: Die Landschaft der Erinnerung. Die klaren, doch unwirklichen Farben. Die Inseln, die sich aus dem Meer erheben. Das direkte, helle, doch unheimliche Licht, dessen Quelle nicht preisgegeben wird. Die anhaltende Bedrohung durch das Dunkel. Zwischen beidem die unscharfe Grenze. Totale Stille und Bewegungslosigkeit. Das langwimprige schlafende Auge, das einem Wesen gehören muß, dessen Blick du nicht auffangen möchtest. Der kahle, abgebrochene Baum, der aus einem scharfkantigen Kasten hervorwächst. Und, vor allem, die vier Taschenuhren: Die eine mit geschlossenem Gehäuse, die auf ekelhafte Weise von Ameisen bekrochen ist. Die drei anderen, bläulichen, verformten, die sich – als seien sie aus Wachs, nicht aus Metall – über Kasten, Baum und Schlafauge gehängt, gelegt, geschmiegt haben und auf ihren drei Zifferblättern drei wenn auch nur geringfügig sich voneinander unterscheidende Zeiten angeben – die Sekunde, bei der sie stehenblieben. Ein ironischer Kommentar zu dem Titel »Beständigkeit der Erinnerung«. (Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Totenkälte, die von dem Bild ausgeht, und dem politischen Zynismus, den sein Maler inzwischen enthüllt hat?)
Die Dauer des Gedenkens.
Die Zuverlässigkeit des Gedächtnisses.
In dem breiten, bequemen amerikanischen Bett, unter der beheizten Decke erwachst du gewöhnlich ohne die Erinnerung an einen Traum, sogar ohne Verwunderung über die Traumlosigkeit. Es scheint sich von selbstzu verstehen, daß auch der Schlaf hier anderen Gesetzen unterliegt als zu Hause. Nur einmal, heute früh, ist dir bewußt, daß du dich im Traum in der Kulisse der Heimatstadt bewegt hast, die Richtstraße hinuntergingst, in einem fremden Haus der ehemaligen Mitschülerin Christel Jugow gegenübergestellt wurdest, die schrecklich an einem Insekt litt, das unter den Lidern ihrer großen braunen Kalbsaugen festsaß und auf keine Weise und durch niemanden zu entfernen war: Man hatte dich geholt, ob du Rat wüßtest. Die Szene spielte in einem großbürgerlich-konventionell eingerichteten Raum, unter selbstzufriedenen Leuten, während auf der anderen Straßenseite das Gerichtsgebäude mit vergitterten Fenstern war, hinter denen, wie dir die ganze Zeit über bewußt blieb, Gefangene schmachteten. Du reagiertest – im Traum – mit einer dir selbst unerwarteten Härte auf das Leiden der Gleichaltrigen.
Der Traum spielte in keiner von allen möglichen Zeiten, und er bediente sich der Erinnerungslandschaft, um eine gegenwärtige Beklemmung endlich auszudrücken. Totenkälte ging von ihm aus.
(Tagelang liegt dir schon ein lästiges Wort im Kopf, ebenso unübersetzbar wie »fair«, obwohl man doch denken sollte, man müßte ihm beikommen können: Es steht auf den meisten Verpackungen der Lebensmittel und heißt »flavour«. Geschmack, Wohlgeruch, Blume [des Weins]. »The flavour of this juice makes your life delicious.« Dabei hat, anstatt das Leben köstlich zu machen, der flavour das natürliche Aroma des Saftes zerstört ...)
»Die Abtastschritte der Augenbewegungen bei der Informationsaufnahme werden vom Gedächtnis gesteuert.«Augen, die Gewohntes sehen, ermüden also weniger leicht? – Beobachtungen, die auf Grund von Filmaufnahmen mit versteckter Kamera in Supermärkten angestellt
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