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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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(Stalins Tochter, sagte er – er hatte sie gekannt –, habe in einer Welt gelebt, die gar nicht existierte. Der Satz ging dir nach.) Moskau, wie du es vor- oder nachher nie wieder gesehen hast. Das Krankenhaus auf der Anhöhe. Der Garten, in dem sich einzeln oder in Gruppen langsam die Kranken bewegten. Der überraschende Blick auf die Silhouette der Stadt, dunkel vor dem blassen Goldrand nach dem Sonnenuntergang. Der Professor, der bei jedem Abschied dachte, daß es der letzte sei. Dem Selbstmitleid fernlag. Seine Augen, traurig, sein Lächeln. Im Krieg war er als Major Herausgeber einer Frontzeitung gewesen. An der Potsdamer Konferenz hatte man ihn als Beobachter teilnehmen lassen. Du dachtest manchmal, vielleicht habe er zuviel mit ansehen müssen. Dann lächelte er wieder, gab dir seine Artikel. Er glaubte an die Vernunft. Er zitierte Montesquieu, der dachte, »daß die Vernunft eine natürliche Macht besitzt ... ›Man leistet ihr Widerstand, dieser Widerstand ist aber ihr Sieg; noch einige Zeit, und man wird zu ihr zurückkehren müssen.‹«
    Die letzte Begegnung – wenig später starb er – im dunklen Auto im Park von Cecilienhof, wo er an derStätte des Potsdamer Abkommens zu einer Konferenz gewesen war. Wie es kam, weißt du nicht mehr, jedenfalls fingst du an, von dem Dorf Bardikow zu erzählen. Von der »Arche«, dem Kommandanten Pjotr, den Überfällen. Er wollte mehr hören, alles. Manchmal lachte er, manchmal schwieg er. Am Ende sagte er, wenn er dich um irgend etwas beneide – er klagte nie, hatte nie das Gefühl, etwas versäumt zu haben –, so sei es das: Du würdest die Zeit erleben, da man offen und frei über alles werde reden und schreiben können. Die Zeit wird kommen, sagt er. Sie werden sie erleben. Ich nicht.
    Heute weißt du, daß es im Zeitalter des Argwohns das aufrichtige Wort nicht gibt, weil der aufrichtige Sprecher auf den angewiesen ist, der aufrichtig zuhören wollte, und weil dem, dem lange das verzerrte Echo seiner Worte zurückschlägt, die Aufrichtigkeit vergeht. Dagegen kann er nichts machen. Das Echo, auf das er rechnen muß, schwingt dann als Vorhall in seinem aufrichtigsten Wort. So können wir nicht mehr genau sagen, was wir erfahren haben.
    Nelly in den Augustnächten in der Scheune der Bäuerin Laabsch, Erna Laabsch, die drei Töchter hatte, Hanna, Lisa, Brigitte, und nur die mittlere, Lisa, hatte einen Anflug von Hübschheit. Die Sterne flimmerten durch das löchrige Dach, da lag Nelly wach zwischen ihrer Mutter, die auch nicht schlief, und Bruder Lutz, der, müde von der Feldarbeit, in Schlaf fiel, wenn er sich ausstreckte. Sie haben den Gesang der »Russen« gehört – unter denen ja, wie sie inzwischen wußten, auch Nicht-Russen waren. Der Gesang war traurig und zugleich bedrohlich, fand sie, und sie hatte Angst in ihrer unverschlossenen Scheune. Die Witwe Laabsch, eine hagere,rackernde, scharfgesichtige Person, verrammelte und verriegelte ihre drei Töchter Nacht für Nacht wie den Goldschatz der Azteken, sagte Charlotte Jordan, der es keine Ruhe ließ, daß sie ihre Tochter nicht einriegeln konnte. Die Russen hatten den Dorfmädchen keine Nescafé-Büchsen zu bieten. Sie aßen schweres schwarzes Brot und liefen in verblichenen, durchgeschwitzten Soldatenblusen durchs Dorf. Manchmal schnappten sie sich ein Fahrrad und führten auf der Dorfstraße Kunststückchen auf. Sie marschierten in einem schnellen Marschschritt, über den sich die Deutschen lustig machten. Ein Mann, den sie alle nur den KZler Ernst nannten, sagte in der Bürgermeisterstube zu ein paar Frauen, die Deutschen seien wohl das einzige Volk auf der Welt, das andere Völker nach ihrem Marschschritt beurteile. Nelly dachte, das habe ich eben auch noch getan. Es kam ihr auf einmal lächerlich und beschämend vor. Die Lieder, die die Russen beim Marschieren sangen, unterschieden sich stark von den Liedern, die nachts über das Dorf kamen. Die Kinder liefen neben der Kolonne her, ahmten den Marschschritt nach und sangen: Leberwurst, Leberwurst, tamtata, Leberwurst!
    Um diese Zeit etwa tauchte in Bardikow der Rote Kommandant auf. Sein Name war Fritz Wussagk. Ehe er leibhaftig kam, war er ein Gerücht in den Dörfern, das man glauben konnte oder nicht. Eines Tages aber hielt der legendäre Dogcart vor Nellys Bürofenster. Mit ihm waren sein ständiger Begleiter, ein Individuum namens Franz (Namen sind Schall und Rauch: Nenn mich Franz. Den Chef aber immer: Herr Wussagk, wenn ich bitten darf), und Manne

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