Kindheitsmuster
Kompetenz gingen. Der Bürgermeister, der wußte, seine Tage in diesem Amt waren gezählt, fand, es sei allein Nellys Aufgabe, die Eier herbeizuschaffen. Nelly zog also mit einem Henkelkorb am Arm los und erbettelte, erdrohte, erzwang von den Bauersfrauen die Ablieferung von Eiern für dreißig Pfennig das Stück: Richard Steguweit sagte, mehr könne man als reguläre Behörde nicht zahlen. Auf dem schwarzen Markt erzielte jedes Ei bis zu zwei Mark. Nelly malte aus, was dem Dorf passierenwürde, wenn der Kommandant, den sie als sehr eigensinnig schilderte, die Eier nicht bekäme. Da gaben die Bäuerinnen seufzend zwei, drei Stück.
Mit immer noch dem gleichen Eierkorb am Arm erschien sie dann vor dem Schlagbaum, der den von der sowjetischen Kompanie besetzten Teil des Dorfes von dem anderen trennte. Die Eier und das Stichwort »Kommandant« veranlaßten den Posten, den Schlagbaum vor ihr zu öffnen. (Später winkten die Posten nur, und sie ging unfeierlich um den Schlagbaum herum). Man wies sie zur Gastwirtschaft »Zum Grünen Baum«, in deren Küche für die sowjetische Kompanie gekocht wurde. Fünf Köche, darunter zwei mit hohen weißen Mützen. Der größere dieser beiden, der Chefkoch, war befugt, den Eierhandel abzuwickeln. Nelly schob den Korb über die Theke, er zog aus der Tasche seiner Militärhose unter der weißen Schürze ein Bündel Geldscheine hervor, Besatzungsgeld. Nelly sagte, als stünde sie hinter ihres Vaters Ladentisch: Sechs Mark bitte. Der Koch legte einen Fünfzigmarkschein auf den Tresen. Nelly sagte: Zu viel. Der Koch sagte: Genug. Dies wiederholten sie dreimal. Nelly zeigte auch sechs Finger hoch. Dann wurde der Koch unzufrieden, er sagte: Nun gehn. Nelly nahm den Fünfzigmarkschein. Beim Hinausgehen mußte sie lachen. Vor dem Oberkoch hatte sie keine Angst mehr.
Der Bürgermeister, der fast nur noch zu Bette lag, wollte mit dem Russengeld gar nichts zu tun haben. Nelly wisse ja, daß die Gemeinde sie für ihre viele Arbeit so gut wie gar nicht bezahlen könnte. Dreißig Mark im Monat, das hieß: ein halbes Brot.
Nelly führte gewissenhaft Buch über das Eiergeldund seine Verwendung, über die Zahl der eingesammelten Eier, die sie übrigens in der Ofenröhre der Amtsstube aufbewahrte, wo sie aber im Hochsommer nicht länger als vier, fünf Tage bleiben konnten. Andererseits war es klug, einen kleinen Vorrat anzulegen, weil der Ertrag der Sammelaktionen schwankte. Die Eier, die alt zu werden drohten, mußten gegessen werden. Von wem? Der Bürgermeister fand auch, das sei Nellys Angelegenheit. Nellys achtköpfige Familie konnte ohne Mühe ein Rührei aus zwanzig Eiern zum Abendbrot aufessen. Nelly bezahlte die Eier gewissenhaft von dem Geldüberschuß aus dem Handel mit dem Chefkoch. Es ging um keine geringen Beträge. Richard Steguweit sagte: Nun werden Sie regulär von den Russen bezahlt.
Das war an dem.
Die Witwe Laabsch sagte zu Charlotte Jordan, die sie nicht leiden konnte, weil sie sich nicht von ihr einschüchtern ließ: Ihre Tochter soll ja bei den Russen bekannt sein wie ein bunter Hund. Sie geht ja wohl bei denen ein und aus.
Na und? sagte Charlotte. Schicken Sie doch Ihre Töchter hin, wenn Sie den Mumm dazu haben. Meine Nelly weiß sie zu nehmen. Die Russen sind auch Menschen.
Dann trat, für einige Wochen, der zweite Koch aus dem »Grünen Baum« in Nellys Leben. Er erschien jeden Nachmittag gegen halb vier in der Bürgermeisterei. Anscheinend war sein Küchendienst dann zu Ende. Zuerst erkannte Nelly ihn kaum ohne seine weiße Mütze. Er muß ein Kaukasier gewesen sein, ein dunkelhäutiger Mensch mit schwarzen Augen und krausem blauschwarzem Haar. Er trat ein, grüßte, nahm sein Käppiab und setzte sich in den abgeschabten Besuchersessel, von dem aus er Nelly ansehen konnte. Da saß er also und sah Nelly an. Ihr war er nicht geheuer. Sie versuchte, sein Anliegen herauszufinden. Er schwieg beharrlich, da gab sie es auf. Er blieb meist eine Stunde lang, spielte mit der Kurbel des alten Telefons, stand dann plötzlich auf, stülpte sein Käppi über, grüßte auf russisch und ging.
Als er zum drittenmal kam, begriff sie. Vor ihm brauchte sie gewiß keine Angst zu haben. Er sollte nur sitzen und sie anstarren, während sie in aller Ruhe – so tat sie wenigstens – schrieb, tippte, Besucher abfertigte, die übrigens die Stunde zwischen halb vier und halb fünf zu bevorzugen schienen und mit Bemerkungen über ihren stummen Gast nicht sparten. Charlotte sagte: Du kommst ins
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