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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Gerede. Jetzt war es an Nelly, na und? zu sagen. Nicht auszuschließen ist, daß sie sich in Gegenwart des zweiten Kochs, den man im Dorf alsbald »ihren Russen« nannte, ein bißchen herausfordernder bewegte als sonst. Vielleicht auch nicht. Vielleicht versäumte sie es, die Lage auszunutzen. Er saß und sah sie an. Die Struktur ihrer Beziehungen war klar.
    Einmal, nach drei, vier Wochen, hatte er die Kurbel des Telefons abgeschraubt, ließ sie neben dem Telefon liegen, stand schnell auf, vor der Zeit, ging grußlos und kam niemals mehr wieder.
    Der hat Angst gekriegt wegen dem kaputten Telefon, sagte Onkel Alfons Radde. Nelly bemühte sich, das zu glauben, über den Zweifel hinweg, den sie hegte. Sie sah den zweiten Koch, wenn sie alle drei Tage mit den Eiern in den »Grünen Baum« kam, aber er hielt sichim Hintergrund und blickte nicht zu ihr herüber. Nelly fragte sich nicht, inwiefern er sie enttäuscht hatte.
    (Dreiundzwanzig Jahre später, in einer Stadt an der Wolga, nach der zweiten Flasche Sekt im Kulturhaus, ehe der Film anfängt, fragt der Mann, der zu dem Sekt eingeladen hat – ein Journalist, Russe –, ob du das Dorf D. kennst. Es liege in Mecklenburg. Du hattest den Namen dieses Dorfes nie gehört. Er aber hat 45 monatelang in diesem Dorf gelegen, als Sergeant. Es gab dort ein junges Flüchtlingsmädchen, Anna B. Sie war schön. Es könnte doch sein, daß sie noch in diesem Dorf ist, sagte der Mann. Du erbotest dich, beim Rat der Gemeinde von D. anzufragen. Der Mann dachte nach. Ja, sagte er schließlich. Tun Sie das, bitte. Und wenn Sie von ihr Nachricht bekommen, dann fragen Sie sie, ob sie ein Kind hat, das jetzt zweiundzwanzig Jahre alt ist. Und schreiben Sie es mir. – Der Rat der Gemeinde von D. antwortete auf deine Anfrage umgehend, eine Frau namens Anna B. – oder eine Frau, deren Mädchenname Anna B. war – sei in dem Dorf nicht bekannt. Leider. – Unsinnigerweise ist es dir schwergefallen, dem Mann, mit dem du Sekt getrunken hattest, diese Auskunft zu schreiben).
    Es war Herbst geworden, Oktober. Wie seit langem erwartet, wurde der politisch belastete Bürgermeister Richard Steguweit abgelöst, das Gemeindeschild von Steguweits Haus entfernt und am Zaun von Schuster Sölle angeschraubt, der Nelly nicht brauchte, weil seine eigene Tochter ihm bei der Schreibarbeit helfen würde.
    Nelly hatte keinen Grund mehr, in den »Grünen Baum« zu gehen. Eine letzte Amtshandlung aber wurde ihr noch abverlangt. Sie hatte als Listenführerin anwesendzu sein, während eine junge sowjetische Militärärztin zwei Tage lang alle Frauen des Dorfes auf Geschlechtskrankheiten untersuchte. Bei Häusler Stumpf am Ringweg war eine Stube ausgeräumt: Sofa, Küchentisch für Nelly, Holzstuhl, Wohnzimmertisch mit Stuhl für die Ärztin, Waschschüssel mit Desinfektionswasser in der Ecke, am Nagel ein Handtuch, das Frau Stumpf häufig zu wechseln hatte. Auf dem Kanonenofen in der Ecke kochte Schwester Nadja Tee. Die Frauen, nach dem Alphabet geladen, standen vor dem Haus Schlange. Die Männer des Dorfes gingen grinsend vorbei. Nelly trank mit der Ärztin und Schwester Nadja Tee, sie redeten miteinander, so gut sie konnten, sie rief die Frauen herein, bestätigte die Identität, hakte den Namen in der Liste ab und lernte es, bestimmte medizinische Ausdrücke in die dafür vorgesehene Spalte einzutragen. Sie verpflichtete sich, den hippokratischen Eid, den sie nicht geschworen hatte, zu achten und niemandem die Namen der sechs oder sieben Frauen zu nennen, die sich als womöglich infiziert zur genaueren Untersuchung in die Kreisstadt begeben mußten.
    Es war ein bedeutsames Erlebnis. Zum erstenmal sah Nelly mit an, wie Frauen ausbaden mußten, was die Männer angerichtet hatten. Manche – die Pfarrfrau zum Beispiel – weinten. Nelly versuchte die Ärztin zu bewegen, Ausnahmen zu machen, vergeblich. Sie erbot sich, für Frau Pfarrer Knop zu bürgen. Die Ärztin sagte streng: Njet. Sie machte ihr begreiflich, daß Nelly auch für sich selber nicht bürgen könnte. Das war klar. Die Arbeit der Ärztin war gewiß notwendig und richtig. Aber Nelly fand es überflüssig, jede Frau vor der Untersuchung zu fragen, ob sie verheiratet sei.
    Am Abend des ersten Tages sagte die Ärztin: Deutsche Frauen Schweine. Es kam heraus, daß sie von einer unverheirateten Frau verlangte, sie sollte Jungfrau sein. Durch die Heftigkeit, mit der sie diese These bekämpfte, erfuhr Nelly, daß sie in diesem Punkt anderer Meinung war. Seit

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