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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Heilsarmeemärchen!) Sowjetische Soldaten, Suppe austeilend, Kinder rettend, kreißende Frauen ins Krankenhaus bringend.
    Was alles nicht bestritten wird.
    Was wollen Sie denn: Keine Armee der Welt konnte einen Krieg wie diesen als Heilsarmee überstehen. Die Wirkungen des Krieges sind auch auf diejenigen, die ihn nicht angefangen haben, verheerend. – Dies zu dem Taxifahrer gesagt, Herrn X, der seit fünfunddreißig Jahren in der Nähe wohnt und »alles an Ort und Stelle miterlebt hat«. Der zu verstehen gibt, daß er deinen Beruf kennt und nur deshalb den Mund aufmacht: Wenn Sie aber auch nur wissen wollen, was in der Zeitung steht, dann nichts für ungut.
    Glaubhaft versichert er, daß er nicht gerne Soldat gewesen ist; wegen Wehrkraftzersetzung sei er sogar zwei Jahre lang eingelocht gewesen und habe deshalb das Ende von dem ganzen Schlamassel, nicht mehr kriegsdiensttauglich, zu Hause erlebt. Sein Nachbar, sagt er, habe ihn noch zuletzt bei der Gestapo angezeigt, weil er ihm wegen seiner führergläubigen Phantasien von der Wunderwaffe übers Maul gefahren war: Die Atombombe? Das ist für uns perdu! Derselbe Nachbar wurde dann, ob Sie’s glauben oder nicht, vor unser aller Augen im Keller erschossen, weil er seine Lederjacke nicht ausziehn wollte. Und meine Frau hat sich nach einer Woche den Strick nehmen wollen. Ich hab sie ja auch nicht schützen können, dann wäre ich erledigt gewesen. Aber ich hab ihr gesagt, sie soll durchhalten, es kann ja nicht ewig dauern. Es hat vierzehn Tage gedauert, dann kam die zweite Welle, die Kampftruppen wurden abgelöst, dann kam die Kommandantur, dann kam Ruhe und Ordnung. Ich weiß ja nicht, wie Sie darüber denken, junge Frau: So was kann man doch nicht vergessen. Ja: Wenn sich der Deutsche auch so was hätte zuschulden kommen lassen. Aber ich sage Ihnen: Dazu hatten wir ja auch gar nicht die Zeit! Es liegt uns auch nicht.
    Das war zwischen Teltow und Mahlow. Die Fahrt nach Schönefeld würde noch fünfzehn Minuten dauern. Fünfzehn Minuten gegen dreißig Jahre. Zorn zu zeigen würde nichts nützen, das war dir klar, Befremden würde ihn nur in sein Schweigen zurücktreiben. Aber was nützte überhaupt? Im Taxi die deutsche Kriegsschuld beweisen müssen ... Deine ersten Sätze waren ungeschickt. Herr X bestritt ja die allgemeine deutscheKriegsschuld nicht, bezweifelte keinen einzigen der Millionen sowjetischer Toten, auf die du die Rede brachtest. Er sagte nicht einmal: Das ist der Krieg. Daß wir angefangen haben: zugegeben. Auch daß die meisten hier ein Brett vorm Kopf hatten, vollkommen vernagelt waren mit ihrem Adolf. Nur: Was die dann mit uns gemacht haben – das steht auf einem anderen Blatt.
    In dreißig Jahren ist es nicht gelungen, die beiden Texte, die in Herrn X’ Kopf nebeneinander laufen, auf ein und dasselbe Blatt zu bringen. Er fängt an, Einzelheiten zu erzählen, die schlimm sind, du gibst es zu: schlimm; aber, fügst du hinzu, und schämst dich fast, Herrn X Informationen zu geben, die seit dreißig Jahren über Zeitung, Radio, Fernsehen auch in sein Wohnzimmer gedrungen sein müssen und gegen die er sich seit dreißig Jahren gesperrt hat. Es kann doch nicht sein, denkst du, daß er bestimmte Schilderungen nicht gelesen, gewisse Filme und Bilder nicht gesehen hat. Daß ihm nicht ein einziges Mal das Entsetzen angekommen ist. Schauder, Scham. Er hört dir sogar zu, aber man spürt ja, ob der, zu dem man spricht, einem glaubt oder nicht. Das will er nicht wahrhaben, daß die Rechnung der anderen Seite, wenn es ans Aufrechnen ginge, größer wäre. Beträchtlich größer. Was sagt er am Schluß? Nichts für ungut, sagt er noch einmal. Ich habe Ihnen ja nicht zu nahe treten wollen. Aber jeder hat nun mal seine Überzeugung. Und das eigene Hemd ist einem nun mal näher als des Fremden Rock.
    Fast hätte Herr X dich dazu gebracht, die Geschichten von Bardikow als eine Kette von Zeitungsanekdoten zu erzählen. (Bestimmt wissen Sie nicht, was Angstist, junge Frau.) Rechtzeitig fällt dir ein, was in den Gesprächen zwischen dem Moskauer Geschichtsprofessor und dir eines der Hauptthemen war: Die verfluchte Verfälschung von Geschichte zum Traktat. Er ist jetzt schon zehn Jahre tot. Mindestens sechs Jahre lang habt ihr euch gekannt, das ergibt sich aus den Daten der Briefe in der Moskauer Postmappe. Seine Atemnot wurde von Mal zu Mal schlimmer, immer häufiger kamen seine Briefe aus Sanatorien. Deine Besuche bei ihm in Krankenhäusern: in Berlin, in Moskau.

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