Kindheitsmuster
Banding, der ehemalige Hitler-Jugend-Führer von Bardikow, der an derOstfront seinen linken Arm verloren hatte. Ihn kannte Nelly, weil er ihr nachstellte. Eines seiner braunen Augen hatte in der Iris einen weißen Fleck. Charlotte Jordan fand ihn »wenig erfreulich«, und Nelly konnte nicht umhin, ihr zuzustimmen. Jetzt trug er am rechten Arm eine rote Binde mit einem weißen K.
Das K bedeutete »Kommandant«, Nelly erfuhr es von Herrn Wussagk persönlich. Ihn hatte nämlich die neue Besatzungsmacht, erklärte er, zum Kommandanten von fünf Dörfern ernannt – er zählte sie auf – und hatte ihm unter anderen sehr weitgehenden Vollmachten das Recht erteilt, in jedem dieser Dörfer einen Stellvertreter zu bestimmen, der für Ruhe und Ordnung zu sorgen, die Bevölkerung vor Banditen zu schützen und die Befehle des Oberkommandanten auszuführen habe. Ob das klar sei.
Wussagk war ein Mensch wie aus dünnen geschmeidigen Stahlseilen angefertigt. Man hatte sofort Furcht vor ihm und sagte sich im gleichen Augenblick: Wieso Furcht? Vor dem schmalen Männchen mit dem schütteren blonden Haar? Mit der schiefen Baskenmütze? Dann drehte er sich im Stuhl um, ein blitzender Blick fuhr einem übers Gesicht, eine der feinen kleinen Hände zog sich nervös auf der Tischplatte zusammen, und man wußte wieder, wovor man sich fürchtete.
Alles klar, Herr Wussagk.
In den Dörfern wußte man, der Kommandant frühstückte gerne, und er lehnte auch das Stückchen Schinken nicht ab, das Rosemarie Steguweit aus dem Rauchfang holte, ebensowenig das Töpfchen Schmalz. Er hatte eine blitzschnelle Art, die Abgaben in Empfang zu nehmen, daß Nelly beim erstenmal dachte, eigentlichsei er mehr Zauberkünstler als Kommandant. Für Sonnabend bestellte er zwei Hühner, geschlachtet, ausgenommen und gerupft. Das Fräulein hier werde sie in seinem Auftrag zusammen mit Manne Banding requirieren gehn. Manne Banding grinste auf genau die Art, die Nelly auf den Tod nicht leiden konnte. Sie brachte es fertig, zum Sonnabend zwei Hühner bereit zu haben, ohne daß sie mit Manne Banding requirieren gehn mußte. Sie hatte der jüngsten Tochter der Witwe Laabsch, Brigitte, und Rosemarie Steguweit bloß flüstern müssen, Herr Wussagk, der Kommandant, habe ein unglaubliches Gedächtnis für Leute, die ihm einmal einen Gefallen getan hatten. – Das Laabsche Huhn war allerdings in besserem Futterzustand als das vom Bürgermeister. Kunststück, sagte Rosemarie Steguweit. Die kann doch Körner füttern.
Das Dorf, dachte Nelly, ist eigentlich schlauer als die Stadt. Ohne es sich direkt vorzunehmen, zog sie sich etwas von dieser Dorfschlauheit zu, wie eine unvermeidliche Ansteckung. Sonst gehst du hier sang- und klanglos baden, dachte sie. Und das wollte sie nicht. Es konnte ihr ja egal sein, wie die Bauern hier über sie dachten, aber komischerweise war es ihr nicht egal. Sie wollte ihre Stellung beim Bürgermeister halten, aus Gründen, die sie sich nicht zugab: Die Arbeit machte ihr Spaß. Sie verzog keine Miene, wenn einer der Bauern in ihrer Gegenwart zum andern sagte: Unser Fräulein hier ist auch nicht von gestern! Aber Spaß machte ihr das eben doch.
Womit gesagt ist, daß Angst und Spaß einander nicht ausschließen müssen, solange es sich um eine reale Angst vor wirklich vorhandenen Objekten handelt.Vor den Russen in ihrem Dorf verlor Nelly die Angst – nicht, weil sie sie als Helden, sondern weil sie sie als leicht komische Männer erlebte. (Lenka sagt: Bloß nicht wieder die Eiergeschichte! Du hast deinen Kindern die lästige Wiederholung von Standardanekdoten auch nicht erspart.)
Bei Nelly erschien eines Tages der junge Bursche des sowjetischen Kommandanten. Er hatte scheckiges blondes Stoppelhaar, blaßblaue Augen und ein mit Sommersprossen übersätes Gesicht, und er erklärte Nelly mühsam: Das Dorf habe alle drei Tage zwanzig Eier zu liefern, gegen Bezahlung. Ei – verstehn? Huhn – verstehn? Geld, Mark – verstehn? (Das war vor der Zeit, als Nelly den Burschen einfach Serjoscha, und lange vor der Zeit, als sie den Kommandanten einfach Leutnant Petja nennen wird.) Der strenge Ton des Jungen stand in bemerkenswertem Gegensatz zu seinem Gesichtsausdruck, und Nelly ließ den Burschen wissen, daß sie den Gegensatz bemerkte. Dazu braucht man keine Vokabeln. Der Bursche war auf eine strenge Weise verwirrt und machte Nelly haftbar.
Die hatte sich schon daran gewöhnt, haftbar zu sein für die Ausführung von Befehlen, die weit über ihre
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