Kindheitsmuster
bißchen, eigentlich sogar im Gegenteil (Aussagen, die zu einer Unterabteilung der erlaubten Notlügen gehörten, zu den Mitleidslügen, die man gegen alles Mißgestaltete zu richten hat). Doch Hexen, die niemals zu lügen gezwungen sind, weil sie von Berufs wegen unverschämt sein müssen, nehmen Lügen unerbittlich für bare Münze (das ist der zweite Punkt, an dem man sie von Menschen unterscheiden kann) und fangen also an, einem mit ihrer runzligen, gekrümmten Hand endlos die Wangen zu tätscheln. Eine Hand, an der Nelly zu ihrem unaussprechlichenVerdruß Tante Emmys in Gold gefaßte Perle erblicken muß.
Die Hexe, die sich nach dem Gesetz ihrer Gattung erst zufriedengibt, wenn sie die Leute um sich herum zu Zerrbildern ihrer selbst gemacht hat, verschafft sich einen von übertriebenen Danksagungen strotzenden Abgang. Sie wünscht noch allen Anwesenden ein langes Leben, weil die Hinterbliebenen beim Tod eines Angehörigen immer zuerst an ihre Trauerkleider dächten, was sie später nicht sich selbst, sondern dem Verstorbenen übelnähmen. Aber so sind die Menschen, und wie sie sind, müssen sie auch verbraucht werden.
Was fällt dir ein, Lutz, wenn du »Tante Emmy« hörst?
Eine Warze. Königsberg. Ein Strickzeug. Sie muß unheimlich schnell gestrickt haben.
Tante Emmy, wie sie in deinem Gedächtnis zum letztenmal auftritt, sitzt mit ihrer Schwägerin Auguste – Schnäuzchen-Oma – an einem heißen Sommernachmittag emsig strickend auf dem Sockel vor der Haustür des neuen Jordanschen Hauses. Nelly turnt am Treppengeländer. Es hat sich um das Jahr 41 oder 42 gehandelt, nach dem Einmarsch in die Sowjetunion, aber vor Stalingrad. Tante Emmy in keiner Verkleidung. Jemand, ein weibliches Wesen, kommt die Treppe heraufgehuscht, die seitlich am Haus zum ersten Stock hochführt und in eben jenem Steinpodest endet, auf dem die Frauen sitzen und stricken. Nelly erkannte das verblichene Drillichzeug, das weiße Kopftuch, den großen Buchstaben O auf Brust und Rücken: »Ostarbeiter«. Sie erkannte das ukrainische Dienstmädchen von Frau Major Ostermann. Es kam, auf besonderen Wunsch von Charlotte Jordan, immer erst kurz vor Ladenschlußfür die Frau Major einkaufen und war im Fremdarbeiterlager am Stadion untergebracht. Warum es sich aber am hellerlichten Tag die Außentreppe hochwagte und dringlich verlangte, die »Frau« zu sprechen – das konnte Nelly sich durchaus nicht vorstellen.
Tante Emmy, kaum von ihrer Strickerei aufblickend, beschied die Fremde, die Frau sei im Geschäft und unabkömmlich. Dann sagte sie zu Nelly ungewöhnlich streng: Geh mal weg! und verfiel übergangslos, kaum die Lippen bewegend, den Blick nicht hebend und das Stricken nicht eine Sekunde unterbrechend, in ein flinkes, unverständliches Murmeln in einer Sprache, die wohl Polnisch sein mußte und in der sie in weniger als einer Minute Rede und Gegenrede mit der Ukrainerin wechselte, die darauf, als wäre sie nie dagewesen, grußlos und wie ein Schatten die Treppe wieder hinunterglitt und verschwand.
Was wollte sie?
Die? Was die wollte? Ach du mein liebes Herrgöttchen von Tschenstochau, was wird die schon gewollt haben. Hab sie ja selber kaum verstanden. Irgendeine Bestellung von ihrer Frau Major.
Das war gelogen, Nelly vertrug das nicht. Erst heute wunderst du dich, daß Nelly, die als neugierig verschrien war, nicht darauf bestand, die Wahrheit zu erfahren. Sie setzte »ihr Gesicht« auf, doppelt bockig, weil Tante Emmy keine Notiz davon nahm, und zog sich zu ihrem Zufluchtsort zurück, die Kartoffelfurche im Garten unter der Schattenmorelle, um sich in ihr Buch aus der Schulbibliothek, vielleicht »Die Stoltenkamps und ihre Frauen«, zu vergraben.
Ein paar Jahre früher noch hatte sie sich Geheimnistuereinicht gefallen lassen. Hatte die Tür zum Wohnzimmer, aus dem sie mit Bruder Lutz gerade verwiesen worden war, noch einmal aufgerissen, um hineinzurufen: Man solle sie bloß nicht für dumm halten. Sie wisse ja doch, was jetzt besprochen werden solle: Tante Trudchens Ehescheidung. – Anhaltende Genugtuung über die Wirkung, die sie erzielte.
Hat ihre Neugier inzwischen abgenommen? Nimmt Neugier ab, wenn sie lange ins Leere stößt? Kann man eines Kindes Neugier vollkommen lahmlegen? Und wäre dies vielleicht eine der Antworten auf die Frage des Polen Kasimierz Brandys, was Menschen befähigt, unter Diktaturen zu leben: Daß sie imstande sind zu lernen, ihre Neugier auf die ihnen nicht gefährlichen Gebiete einzuschränken?
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