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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Aufforderung an andere, dichzu vernichten? Damit du es nicht selbst tun mußt? – Zu einfach, sagst du. Wenn nämlich am anderen Ende des Sees ein anderes Ufer wäre, so möchte ich es schon sehen. – Dir fällt die Angst ein, die du als Kind um deine Mutter hattest. Wiederholt sich alles? Muß die Einsicht, wie man den Kreislauf unterbrechen könnte, immer so spät kommen, daß der Schaden angerichtet und man selbst zu alt ist für durchgreifende Veränderungen?)
    Warum hat Nelly so großen Wert darauf gelegt, für tapfer zu gelten? Onkel Heinrich aus Königsberg, ein mokanter Mensch, führt ihren rechten Zeigefinger langsam, langsam durch die Flamme einer Kerze. Nelly zuckt nicht, auch wenn ihr die Tränen in die Augen treten, und trotzdem sagt Onkel Heinrich: Neenee, Marjallchen. Tapfer ist anders. Tapfer ist, wenn du mir sagst, daß du jetzt eine Wut auf mich hast und daß ich häßlich bin. – Onkel Heinrich mit seinem langen gelben blanken Pferdeschädel, mit seinen großen gelben Zähnen. – Also sagst es nun? – Nein, sagt Nelly. – Kannst es mal sehn. Mitleidig bist vielleicht, aber tapfer ist anders.
    Die nächste Probe folgte auf dem Fuße. Es klingelte. Herein trat, hundertmal sich entschuldigend – fast hätte Nelly gedacht: Endlich! –, eines jener Geschöpfe, ohne die die Welt nicht wäre, was sie ist, die es aber aus verständlichen Gründen vermeiden, im Alltag offen aufzutreten: Eine Hexe. Alt wie Methusalem und häßlich wie die Nacht. Unterwürfig empfangen von Onkel Heinrich: Madamchen vorne und Madamchen hinten. Ein Täßchen Kaffee für die gnädige Frau. Na was ist denn, Nellychen. Sei so freundlich. Dieses Kind ist übrigensmeine Großnichte, sehr wohlerzogen, und heißt Nelly.
    Die Hexe sagte, das sei ihr angenehm, und sog an der Warze auf ihrer Oberlippe. Nicht, daß es Nelly nicht aufgefallen wäre, daß diese Hexe ihre Warze an genau der gleichen Stelle trug wie die übrigens zufällig abwesende Tante Emmy. Oder daß sie sich eine Brille mit aufgeklebten Schielaugen aufgesetzt hatte, an der eine widerlich rote Pappnase hing. Nur begriff sie: Wer andere wirklich täuschen will, geht so plump nicht vor. Es handelte sich hier um einen jener feinen doppelten Tricks, die Nelly zu kennen glaubte: Einer legt sich eine häßliche Maske zu, damit keiner zu vermuten wagt, um wie vieles häßlicher er in Wirklichkeit noch ist. Nur daß diese Vorspiegelung bei Nelly nicht verfing, sowenig wie Tante Emmys grünes Umschlagtuch, das die Hexe um die Schultern gelegt hatte. Die Hexe wollte, daß man sie für Tante Emmy hielt, die sich einen Scherz machte. Sie sprach, wie Tante Emmy sprach, wenn sie ihre Stimme verstellte. Aber es half ihr nichts. Zwar brachte Nelly – höflichkeitshalber – mehrmals hintereinander leise hervor: Aber das ist ja Tante Emmy! Aber von der ersten Sekunde an war sie nicht im Zweifel, mit wem sie es hier zu tun hatte. Denn es gibt untrügliche Zeichen, an denen man eine Hexe erkennt. Es haftet ihr nämlich die Fähigkeit an, die Zusammensetzung der Luft zu verändern: Gewisse Ungehörigkeiten wirken nun natürlich, bisher Natürliches erscheint im höchsten Grade lächerlich.
    Ein Beispiel: Die Hexe, die sofort den Ehrenplatz auf dem Sofa eingenommen hat, wagt es, Schnäuzchen-Opa dafür zu verhöhnen, daß er auf seinem Holzbrettchenmit scharfem Messer in Millimeterabstand Dutzende von Schnitten in die Brotrinde macht, damit sein zahnloser Gaumen sie zermalmen kann. Die Hexe, der Respekt und Mitleid fremd sind, nennt ihn dafür Hermann Scharfzahn, hoho, und Onkel Heinrich läßt sein breites Lachen hören, jeweß doch, Madamchen. Schlimmer, ungehöriger: daß auch Schnäuzchen-Oma hinter vorgehaltener Hand kichern muß wie ein junges Mädchen, und vor allem, daß es ihr selber in der Kehle kitzelt. Du aber auch! Du aber auch! sagt Schnäuzchen-Oma. Sie steht mit der Hexe auf du und du.
    Die Hexe fängt nun an – nachdem sie unter heftigem Mäkeln alles in sich hineingestopft hat, was Onkel Heinrich ihr auf den Teller gelegt –, sich zu winden und zu krümmen, zu stöhnen und sich den Leib zu reiben, bis sie zu ihrer eigenen Erleichterung und zu Nellys Pein eine nicht enden wollende Reihe von unanständigen Tönen von sich geben muß. Hexen haben kein Gefühl dafür, was peinlich ist, so daß sie es fertigbringt, mit falscher Stimme ein zufällig anwesendes Kind zu fragen: Na und das Fräuleinchen? Ekelt es sich auch schon vor mir? – Aber nein doch, aber gar kein

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