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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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mit Organdy-Röckchen, die Tante Trudchen Nelly mitbrachte, um dann selbst den ganzen Nachmittag mit ihnen zu spielen), wo reizende Menschen wohlerzogen miteinander verkehrten und die Ehemänner – besonders Onkel Harry, Tante Trudchens Mann – ihre Gattinnen auf Händen trugen. Wie es aber angehn kann (das kann doch wohl nicht angehn! ist einer von Tante Trudchens Lieblingsaussprüchen), daß auf das Stichwort »Plau am See« heute noch weißgekleidete Damen mit Sonnenschirmen und weiße Segel auf dem See vor deinem inneren Auge erscheinen und nicht jene wirkliche, wenig auffällige Stadt, durch die ihr inzwischen häufig gefahren seid, auch mal gehalten habt, um Eis zu essen: Wie das angehen kann, verstehe, wer will. Oder wer einen Beweis für die Macht des Unwirklichen, Vorgestellten, Gewünschten über die tatsächlichen Dinge des Lebens sucht.
    Soviel fürs erste zu Trudchen Fenske, die also unfruchtbarwar – ein Wort, das Nelly nicht gehört haben durfte, um nicht sofort des Zimmers verwiesen zu werden; Tante Trudchen, die ihrer Nichte eines Tages, wenn viel über sie hingegangen sein wird und die Ehemänner auch in Plau am See aufgehört haben werden, ihre Frauen auf Händen zu tragen, die Geschichte mit dem Matrosen Karl erzählen wird, die zugleich die Geschichte ihrer Unfruchtbarkeit ist. Vorläufig aber und zunächst suchen Tante Trudchen und Onkel Harry Fenske ein Kind zum Annehmen. Einen Säugling, genauer gesagt. Nämlich Tante Trudchen liebt Babys. Charlotte will ja nicht unken, aber sie möchte bei ihrer Schwägerin Trudchen nicht Säugling sein. Warum? Weil ein Kleinkind seine Ordnung braucht, Pünktlichkeit vor allem, auf die Minute. Und deine Schwester, das wirst du nicht bestreiten, ist nun mal eine Plachanderjette.
    Der Säugling, der drei Tage lang von einem Kinderarzt beobachtet und nicht nur für normal, sondern für besonders intelligent erklärt wurde, sei das Kind einfacher Eltern, die aber beide ihre Verzichterklärung unterschrieben haben und über den Verbleib ihrer Leibesfrucht nichts erfahren dürfen. Rückforderung ausgeschlossen, das ist ja auch das mindeste. Übrigens reicht der rein arische Stammbaum des Vaters weit zurück, während die Herkunft der Mutter, eines Dienstmädchens, sich schnell im Ungewissen verliert. Genau und deutlich gesagt: Auch die Mutter des Knaben ist unehelich geboren. Na. Kann ja im Leben alles vorkommen. Aber Anlage bleibt Anlage.
    Was ist das, eine Anlage? Ein Park mit Rasen, oder was?
    Das verstand Nelly noch nicht. Überhaupt besprachman viel zuviel vor den Kindern, die dasaßen und lange Ohren machten. Guck sie dir doch an.
    Dann also wieder die Zeitung.
    Eugenische Lebensführung. Die Schulen haben die Kinder künftig im Sinne eugenischer Lebensführung zu erziehen. Was wäre denn das nun wieder.
    Was soll schon sein. Verbieten werden sie, daß ein gesundes Mädchen wie deine Tochter einen kranken Jungen wie diesen Heini heiratet.
    Aber das versteht sich doch wohl von selbst!
    Bitte, hier steht es: Wer soll nicht heiraten? Geschlechtskranke, Schwindsüchtige, Geisteskranke. Vierhunderttausend sollen sofort sterilisiert werden.
    Bruno. Ich bitte dich.
    Vierhunderttausend. Streng freiwillig natürlich.
    Was sind Geschlechtskranke?
    Ein Glitzerwort. Fragen verbieten sich. Friedrich der Große aus dem Geschlecht der Hohenzollern. Weißes Emailleschild in der Richtstraße: Facharzt für Hautund Geschlechtskrankheiten. Es kam also vor, daß ein ganzes Geschlecht erkrankte und dadurch heiratsunfähig wurde. Nelly mußte sich sagen, daß auch ihr Geschlecht erkranken konnte, an Schwindsucht oder an Geisteskrankheit. Es erkrankt das Geschlecht der Jordans, wird foosch, und auf ihr bliebe es sitzen: Sie wäre es schließlich, die nicht heiraten könnte.
    Genauere Auskünfte über den Gesundheitszustand ihres Geschlechts konnte sie nur von einer arglosen Person bekommen. Schnäuzchen-Oma.
    Aber gewiß doch kannst bei mir schlafen, Nellychen. Laß doch das Kind. Und warum sollt ich ihr nicht Kliebensuppe kochen, wo sie die nun mal so gerne ißt?
    Schnäuzchen-Oma und Schnäuzchen-Opa wohnen jetzt in der Adolf-Hitler-Straße. Achgottja, der Mensch gewöhnt sich. Krank? sagt Schnäuzchen-Oma. Wir und krank! Als ob wir Zeit dazu hätten. Oder meinst du vielleicht meine Galle.
    Nein, die Galle nicht. Sie war ja auch frühzeitig entfernt worden. Schwindsüchtige? Jesses Kochanni, nicht daß ich wüßte. Geisteskranke? Was nicht gar! Onkel Ede? Der Mann von Tante

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