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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Lina in Grutschno im Polnischen Korridor? Mein Schwager Ede geisteskrank? Wer dir nun das wieder eingeredet hat. Dacht ich’s doch. Deine Mutter redet auch viel, wenn der Tag lang ist.
    Tante Lina in Grutschno, die hat einen Mann mit einem Tülüttütü, und zwar nicht zu knapp. Onkel Ede.
    Die Nachricht wird bestätigt, durch zwei Zeugen, die soeben durch den Polnischen Korridor gereist sind, um Tante Lina und Onkel Ede zu besuchen: Schnäuzchen-Omas Bruder Heinrich und seine Frau, Tante Emmy, beide wohnhaft in Königsberg (Ostpreußen).
    Oijoijoi, meine Lieben, bei der Lina, da tut sich was. Aber man bloß nichts Guts.
    Nelly legt sich im Schlafanzug auf den Bauch neben Omas Wohnzimmertür, um durch den Türspalt mit anzuhören, warum Tante Lina – eine ulkige Kruke übrigens, und kinderlieb, nur einmal – nun um ihr Leben fürchten muß. Dabei ist Ede kein schlechter Kerl, nie gewesen; wer das sagt, lügt. Bloß daß ihm der Selbstgebrannte immer schnell zu Kopf stieg. Und Schnäuzchen-Oma – Gott ist ihr Zeuge – hat ihm schon mehr als einmal gesagt: Nimm doch Vernunft an, Ede, hat sie ihm gesagt. Das kann kein gutes Ende nehmen. OnkelEde aber, den Nelly sich als einen kleinen, traurigen Mann mit einem runden Kopf dachte, hat ihr nur immer erwidern können: Guste, Guste, wenn du wüßtest. Diesen tiefen Ausspruch wollte Nelly sich auf alle Fälle merken. Mit beklommener Genugtuung hörte sie, daß Onkel Ede, wenn er seine Touren kriegte, auf Tante Lina mit dem Beil losging, doch später, wenn er wieder bei sich war, den Kopf in ihren Schoß zu legen und zu weinen pflegte: Luscheken, mein Luscheken!
    All diese nicht alltäglichen Vorkommnisse hatte man sich inmitten des Polnischen Korridors vorzustellen, der wegen der bekannten polnischen Wirtschaft niemals aufgeräumt sein konnte wie ihr eigener deutscher Korridor, in dem man seine schmutzigen Schuhe nicht abstellen durfte, weil Korridor und Badezimmer nun mal die Visitenkarte einer Wohnung waren.
    An dem Tulpenbaum, der vor Großmutters Haus wuchs, würdest du das Haus aus allen Häusern der langen Straße herauskennen, dachtest du, und so war es auch. Der Baum, der im Juli nicht mehr blüht, war gewachsen, das Haus dahinter geschrumpft. Die blaßblauen Fensterläden hingen schief in den Angeln, der Torweg war brüchig, ein zahnloses Maul – flüchtiger Eindruck, weil ihr, wenn auch langsam, so doch ohne Halt vorbeifuhrt. Lutz aber, der vier Jahre alt war, als die Großeltern hier wegzogen, erkannte weder Tulpenbaum noch Fensterladen. Kannst mich totschlagen, sagte er. Absolutes Nirwana.
    Da schwiegst du von der Schlange. Aber hier geschah es, daß sie in Nellys Leben trat oder kroch, sich schlängelte: ein ekelhaftes Tier. Baumstark natürlich, damit der Holzfällerbursche in Schnäuzchen-Opas Geschichtesie für einen Baumstamm halten konnte. Hier, auf dem bräunlich gemusterten Sitzsofa in der Wohnstube, hat Nelly diese Geschichte empfangen, denn »gehört« wäre zu schwach gesagt. Diese Schlange, die dann Nacht für Nacht vor Nellys Bett lag. Die nie Anstalten machte, Nelly zu nahe zu treten, die sie aber hinderte, nachts ihr Bett zu verlassen. Schlangen sind keine Tiere, mit denen man handeln oder irgendwie sonst in Kontakt treten kann. Stumm legen sie sich vor das Bett und verlassen sich darauf, daß man mit der Hellsichtigkeit des schlechten Gewissens ihr Anliegen versteht. Zur Großmutterwohnung haben sie keinen Zutritt, weil man da Rücken an Rücken mit der Großmutter liegt, in einem breiten knarrenden Holzbett, das Gesicht zur Wand gekehrt, auf die eine Straßenlaterne das Blättermuster des Tulpenbaumes als Schattenzeichnung wirft. Den großen weißen Nachttopf vor dem Bett kann man unbesorgt benutzen, während Schnäuzchen-Opa aus seinem Bett heraus laut und anhaltend schnarcht. Nelly liegt wach und versucht, ihre Gedanken beim Entstehen zu ertappen. Sie macht ihren Kopf leer. Dann läßt sie sich denken: Es ist dunkel. Doch jedesmal ist da vor dem voll ausgebildeten Gedanken eine Art inneres Geflüster, das sie nicht zu fassen kriegt.
    (Ruth, die ältere Tochter, ruft an: Sie habe von dir geträumt. Du seist auf einer spiegelglatten Wasserfläche zu weit vom Ufer weggeschwommen, mit der Absicht, dich umzubringen. – Warum erzählst du mir das? sagst du. Willst du mich anstacheln? Vorsichtiger als ich jetzt könnte man kaum lavieren. – Vielleicht, sagt Ruth, deute ich mir im Traum deine manchmal unsinnigen Anfälle von Mut als heimliche

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