Kindheitsmuster
in seine Sprechstunde schleicht, ihn am hellerlichten Mittag vorallen Leuten und vor den weißen Schwänen im Stadtpark nicht grüßen möchte, dann nimmt er rechtzeitig seine Goldrandbrille ab, dreht sich zur Seite und putzt die Brille lange mit seinem Batisttaschentuch. Oder er stellt sich an den Rand des Teiches und wirft den Schwänen und Enten Weißbrotbrocken zu, die er in einem Beutelchen bei sich hat. Doktor Leitner besitzt, was man Herzenstakt nennt. Übrigens kommt es vor, daß ihn plötzlich einer wieder grüßen will, der lange weggesehen hat. Dann zieht Doktor Leitner – so stellst du ihn dir vor –, der auch das spürt, freundlich als erster den Hut.
Der Stadtpark, hat man euch erzählt, sei im allerbesten Zustand. (Er ist es.) Ihr werdet ihn bald aufsuchen müssen, da man euch im Hotel am Bahnhof bedeutet, daß ihr das Zimmer nicht vor sechzehn Uhr beziehen könnt, und man bei dieser Hitze nicht lange durch die Straßen laufen kann. Eine schattige Bank im Stadtpark schwebt Lutz und dir vor. (Daß die Sonne früher ganz anders schien als heutzutage, scheint belegt durch aller älteren Leute Erinnerung. Jetzt aber zeigte sich: Anderwärts hat sie ihre Qualität behalten. Es erfüllte dich merkwürdigerweise mit Genugtuung: Kaum hatte man die Oder hinter sich, da gab es wieder den Kindheitssommer, den du für unwiederbringlich dahin hieltest: Den vor Hitze knisternden, trockenen, kontinentalen Sommer, von dem du von alters her etwas verstandest und an dem du jeden anderen Sommer seitdem unwillkürlich gemessen hast.)
War es denn möglich, daß dir all die Jahre über nicht ein einziges Mal die Trauerweide hinter Café Voley erschienen war? Ihr Anblick versetzte dir den Stoß, dendu nicht an diesem Ort, eigentlich gar nicht erwartet hattest. (Lenka, sattelfest in den Märchen aller Völker, zitierte auf Verlangen sofort den Spruch des getreuen Heinrich, aus dem du nur die eine Zeile brauchtest: Es war ein Reif von meinem Herzen ... Warum? fragte sie. – Nur so.)
Was blieb dir zu wünschen: Hier, im Halbschatten unter dieser Weide, die du immer für den schönsten Baum auf der Welt gehalten hast, hinter dir das verfallende ehemalige Café Voley, im Ohr das Plätschern der Cladow, die natürlich sehr wenig Wasser führt. Sitzend auf den immer noch gleichen Planken derselben Bank, auf der – das stellst du dir vor – Liesbeth Radde und Doktor Leitner mittags manchmal für kurze Zeit gesessen haben.
Zwar konsultiert sie den Doktor Leitner nun nicht mehr, Tante Liesbeth. Ihr Mann hat es ihr schließlich doch untersagt. Doktor Leitner versteht ihren Mann ganz gut und betrachtet freundlich das Kind. Eines Tages, das spürt er schon, wird er doch unstet werden müssen, Jonas Leitner, gottseidank noch rechtzeitig. Zwei, drei Briefe wird er aus Amerika an Tante Liesbeth schreiben, nichtssagenden Inhalts, der sie nicht politisch kompromittieren kann. Sie wird unverfängliche Postkarten schicken, auf denen womöglich Schwanenteich und Trauerweide zu sehen sein werden. (Auch heute kann man am Zeitungskiosk neben dem Eingang zum Stadtpark Postkarten mit Motiven des Parks erwerben, und das tust du auch.)
Ja. Wie auch immer Doktor Leitner nach dem Krieg die neue Adresse seiner früheren Bekannten Liesbeth Radde herausgefunden hat – über den Suchdienst desRoten Kreuzes vermutlich –: Daß sich Manfred Radde im Alter von elf, zwölf Jahren (gesund war er, aber doch immer noch zart, sehr zart), in der gröbsten Hungerzeit, in Magdeburg an der Elbe mit Milchpulver, Kakao und Büchsenfleisch nähren würde, die in Paketen über den Großen Teich kamen – dies hätten sie alle beide, Liesbeth Radde und Jonas Leitner, im Sommer des Jahres 1936 nicht gedacht.
Das hätte nicht einmal Tante Emmy gedacht, obwohl sie sagte und – was mehr bedeutet – daran glaubte, daß dem lieben Gott kein Ding unter der Sonne unmöglich ist. Unter einer Sonne wie dieser allerdings, die, statt zu ermatten, das Lebensfieber anstachelte und den Schleier zerriß, der sich unbemerkt, daher unaufhaltsam Jahr für Jahr verdichtet hatte und (bei unverändertem klinischem Augenbefund) das Sehen behinderte. Dieses Ereignis – die Wiedergewinnung der vollen Sehkraft –, das vielleicht das wichtigste der ganzen Reise war, begab sich während der halbstündigen Rast vor Witnica (früher Vietz) – von Słubice 44, von Kostrzyn 21 Kilometer entfernt –, am Rande der Straße nach G., die, ohne Hauptverkehrsstraße zu sein, in vorzüglichem
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