Kindheitsmuster
einfach nicht in Stimmung, am Sonntagvormittag den weiten Weg vom Sonnenplatz bis zur Soldiner Straße zu machen, bloß weil ihr Mann sich mit einem aberwitzigen Projekt trägt. Erstens ist der ganze schöne Nachmittag futsch, wenn man erst so spät zum Essen kommt. Zweitens will sie nicht wieder das Theater mit dem Jungen haben – Lutz –, der bei jeder kleinsten Regenhusche wie am Spieß Wasser! Wasser! schreit.
Da weiß Bruno Jordan schon wieder genug. Wenn einer sich an einem wolkenlosen Herbsttag mit Regen rausredet, dann weiß er genug und bleibt lieber zu Hause.
Jetzt wird aber gegangen, und wenn es Schusterjungen regnet. Damit der Vater seinen Willen hat. Und ein Regenschirm wird nun auf gar keinen Fall mitgenommen. Beim Laufen, während noch ein bißchen gestritten wird, bessert sich doch die Stimmung. Denn es handelt sich um einen strammen Weg von einer Dreiviertelstunde,die Nelly von ihres Vaters Taschenuhr ablesen muß, obwohl sie die Uhr in der Schule noch gar nicht durchnehmen. Aber am besten ist: Den andern immer um eine Nasenlänge voraus. Und überhaupt: Pünktlichkeit ist das halbe Leben. Stillstand ist Rückschritt. Man muß aus seinem Leben etwas machen.
Aber (fangen denn damals schon viele Sätze von Charlotte mit Aber an?) – aber jeder, den wir gefragt haben, rät ab.
Bangemachen gilt nicht.
Aber wir haben das Geld doch noch gar nicht zusammen.
Du immer mit deinem Wenn und Aber.
Aber wenn sich schon ein anderer Kaufmann neben die Kaserne setzt.
Nimm du mir man bloß immer den Wind aus den Segeln.
Die Schlucht – ein Einschnitt in die Endmoränen-Hü-gelkette – verbindet Friedrichstraße und Soldiner Straße miteinander. Ihr letztes Drittel, eine reich gegliederte, doch gut überschaubare Hügellandschaft, ist das ideale Sommer-und Wintergelände für Kinder. Hier erfährt Nelly, daß wir nun also wieder Soldaten haben werden.
Aber wenn sich die anderen das nicht gefallen lassen.
Siehst ja, Frechheit siegt.
Aber ein Mädchen soll nicht zwischen zwei Kasernen aufwachsen. Soldaten sind sinnlich.
Nun bleib aber auf dem Teppich. Soldaten brauchen Zigaretten und Bier, wenn sie Ausgang haben. Und die Frauen der Offiziere sind froh, wenn ihnen einer die Ware ins Haus liefert.
Aber wer soll denn das machen?
Stell dir vor: wir. Herrgott noch mal! Ein bißchen Unternehmergeist! Ein kleines bißchen Selbstvertrauen!
Charlotte Jordan läßt sich nicht in der Öffentlichkeit von ihrem Mann den Arm um die Schulter legen. – Da rackert man sich ab und macht und tut, und dann kommt wieder Krieg und schlägt alles in Klump.
Manchmal ist es schon zum Verzweifeln mit dir.
Nelly hat nur »Krieg« gehört. Es ist eines der Worte, die sie aus jeder Unterhaltung herausfischen würde. Krieg ist, das weiß sie aus des Vaters altem braunem Album, wenn Reihen von Pickelhaubensoldaten Reihen von anderen Soldaten mit roten Hosen – den Franzmännern – ihre aufgepflanzten Bajonette in den Bauch stoßen, bis die Gedärme zu Boden hängen. Zwar handelt dieses Bild nicht vom Weltkrieg, sondern von 70/71, aber des Vaters Nahkampfreglement, das er auswendig aufsagen kann wie die »Glocke«, paßte darauf wie die Faust aufs Auge. Überaus geläufig war Nelly die Überzeugung, daß Krieg und Angst und Tod ein und dasselbe waren, und das konnte sie auch Herrn Warsinski nicht ganz verhehlen, zu dessen Enttäuschung wieder mal.
Hier also. Na?
Anhalten, sagtest du zu H., der wendete und hielt im Schatten bei den Bahrschen Häusern. Weil sonst nichts zu sagen war, gabst du Nellys Ausruf wieder – der berühmt wurde –, als der Vater ihnen zum erstenmal die Stelle zeigte, an der ihr Haus stehen sollte: Aber hier ist ja ein Berg!
Tja, soll Bruno Jordan, der Bergeversetzer, gesagt haben. Der kommt weg.
Berg war die reine Übertreibung. Der Firma Anderschund Söhne, die ein halbes Jahr später die Ausschachtungsarbeiten übernahm, hat es nicht die geringste Schwierigkeit gemacht, den Rand der Sandhügelkette abzutragen, in die das Haus hineingebaut wurde, da sie ja das Ende der winterlichen Frostperiode des Jahres 36 abwarten konnte, ein geringfügiger Zeitverlust, der durch Bruno Jordans Bemühen, einen Bankkredit zu bekommen, mehr als gerechtfertigt war.
Übrigens scheint es, wie es Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis gibt, auch Kurzzeit- und Langzeitrechthaber zu geben. Zu den ersteren gehörte Bruno Jordan: Sein Haus wurde gebaut, und zwar, wie sich bald herausstellte, in geschäftsgünstiger Lage
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