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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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(zwischen den beiden Kasernen, deren eine, die Walter-Flex-Kaserne, selber noch im Bau war), und auch in günstiger Zeit. Die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland war auf zwei Millionen gesunken, das hieß: Auch Arbeiterfamilien waren für eine Wochenendeinkaufssumme von zwanzig bis dreißig Mark gut. Das Geschäft blühte, so daß die Hypothek praktisch abgezahlt war, als Jordans das Haus nach achteinhalb Jahren verlassen mußten: Diesen Umstand – daß sie schuldenfrei waren – hat Charlotte später nie zu erwähnen vergessen. Sie war ein Langzeitrechthaber.
    Damals sagte sie: Aber der Boden! Der reine Sand, Menschenskind! Ja, das war nun mal nicht anders. Am Abschreiten der Grundstücksfront beteiligte sie sich schon. Aber soviel steht fest: Eine elektrische Rolle wird eingebaut. Und Kohlen- und Kartoffelkeller getrennt. Anders fang ich gar nicht erst an.
    Genehmigt. Und genau hierher, an diese Ecke, setzen wir eine Pappel.
    Aber die bricht der Wind doch um!
    In solchen Einzelheiten hat sie wieder unrecht behalten. Die Pappel steht. Einst eine magere Rute, heute ein kräftiger fünfunddreißigjähriger Baum, wenn auch seine Spitze irgendwann durch einen Blitz gespalten worden sein muß, so daß die zwei ungleich langen Enden, in die er ausläuft, seiner Schönheit Abbruch tun. Das Haus steht auch. Der Krieg – mit dem nun wieder Charlotte recht behielt – hat es nicht in Klump geschlagen, denn die paar Bomben, die in der Stadt herunterkamen, waren Angst- oder Verlegenheitswürfe einzelner Maschinen der Royal Air Force, die von Berlin, ihrem eigentlichen Ziel, durch Flakbeschuß oder Jägereinheiten der Deutschen Luftwaffe abgedrängt waren. Bis hierher, an den Nordwestrand der Stadt, haben sich auch die Kämpfe bei Kriegsende, die den Stadtkern zerstörten, nicht hingezogen. Die Häuserverbrennungen, die vorkamen, waren gezielte Aktionen befreiter polnischer Fremdarbeiter, angeführt durch eine gewisse Frau Bender, die den Versuch, einen schwerkranken Sohn mit Hilfe gestohlener Lebensmittelkarten zu retten, im Gefängnis hatte büßen müssen: Sie ließ nach Kriegsende die Häuser der Nazis in der ihr bekannten Wohngegend niederbrennen. So verbrannten Jordans beide Nachbarhäuser, das Haus von Architekt Bühlow und das von Terrazzoleger Julich. Auf deren Grundmauern sind neue, etwas kleinere Häuser entstanden. Sie bringen natürlich einen fremden Zug in das Gesicht dieser Gegend.
    Im übrigen aber ist geschehen, was kein Mensch für möglich halten konnte: Der Sandberg ist abgetragen und, wie es scheint, in jenen tiefen Einschnitt derSchlucht geschüttet worden, der einst, als Ab- und Auffahrt zwischen zwei dicht beieinander stehenden Erhebungen, im Winter die gefährliche Teufelsbahn ergab, die nicht jeder zu meistern verstand. Auch alle anderen Profile sind verändert. Neue Wiesen befinden sich an einst steinigen Talsohlen, auf denen an jenem glutheißen Sonnabend des Jahres 71 Scharen von Kindern spielten, deren Rufe und Liedfetzen, die du nicht verstandest, dir wohltaten wie lange nichts, während du auf dem Rand der Schlucht standest – genau da, wo Nelly mit ihrer Freundin Hella Prinz und Prinzessin spielte – und zu den neuen Häuserblocks hinübersahst, welche dicht an dicht die Fläche besetzten, die einst der Sandberg einnahm: jener ehemalige Galgenberg, dessen Gipfel lange schon abgetragen war und der damals, ein stumpfer Kegel aus reinem Sand, ein riesiger, durch nichts zu ersetzender, durch nichts zu übertreffender Spielplatz von 150 Meter Durchmesser war.
    Daß Häuser altern, hast du gewußt. Auch daß sie schrumpfen mit der Zeit. Aber das macht nichts. Auch daß es Häuser gibt, die mit einem Bann belegt sind, so daß man sie nicht betreten darf, ist bekannt. Dort drüben das, jenseits der Soldiner Straße, vertraut, fremd, gealtert – es gehört nun dazu. Aber das macht nichts. Bis an das Schaufenster kannst du herantreten – obwohl auch das ungewöhnlich sein mag – und die Auslagen betrachten: Reklamemilchflaschen und Reklamekäsepackungen. Du könntest auch in den Laden hineingehen und, indem du mit dem Finger auf sie zeigtest, eine Flasche Milch verlangen, aber das käme dir schon wie eine bewußte Irreführung des Verkäufers vor. Vermutlich würde er dich höflich bedienen, genau wie die einheimischenKunden, deren Anzahl sich durch die dichte Besiedlung des Sandbergs vermehrt haben muß.
    Daß sie aber die Berge versetzen würden ...
    Während nun im Jahre 36 ihr Haus gebaut wird

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