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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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du, Nelly, sagst uns jetzt wohl das Gedicht vom Riesenspielzeug.
    Aber gerne. Gedichte aufsagen immer. Kühl bis ans Herz hinan, wie die Mutter zu sagen pflegte. Hier ist Zement, da kannst du kratzen. Wer lügt, siegt.
    Es sprießt der Stamm der Riesen aus Bauernmark hervor. /
    Der Bauer ist kein Spielzeug, da sei uns Gott davor!
    Du, sagte Gundel Neumann in der Pause, du, Nelly, ich hab doch wirklich nicht gewußt, daß es nicht deiner war! Und Nelly, zum erstenmal eingehakt mit Gundel, sagte ruhig: Es ist aber meiner! und genoß das Unverständnis und die Bewunderung der anderen, die endlich, als seien sie Freundinnen, auf dem Schulhof mit ihr hin und her ging. Alles, was so lange schiefgelaufen war, kam ins rechte Gleis, wenn man nur einmal im Leben standhaft blieb und log.
    Der liebe Gott hatte dagegen nichts einzuwenden: Er strafte nicht, eher belohnte er noch. Allerdings bestand er darauf, daß man wiederholte, was man einmal fertiggebracht hatte. Daß man es immer wieder tat, und immer wieder aus dem gleichen Grund: aus Stolz.
    Erst jetzt aber taucht aus der Erinnerung der Anlaß für jene erbitterte Schlägerei auf, die zwischen Lutz und Nelly eines Tages entstand und in deren Verlauf sie des Bruders Arm verrenkte, so daß er, wie beschrieben, einige Tage im Krankenhaus blieb und sich die Masern holte, die ihn dann hinderten, beim Richtfest des neuen Hauses dabeizusein: Es ging um eine entscheidende Verletzung der Spielregeln durch Nelly beim Marienkindspiel.Das Märchen ist ja bekannt. Nelly ist das Marienkind. Aus untilgbarer Neugier öffnet sie auch die verbotene dreizehnte Tür im Himmelreich. Bruder Lutz ist abwechselnd die Jungfrau Maria und der Aufsichtsengel, der Nelly Marienkind unter heftigem Flügelschlagen den Eintritt verwehren will. Natürlich überwältigt sie ihn, öffnet die Tür und steht vor der verbotenen strahlenden Dreifaltigkeit, die sie nicht nur sieht, sondern sogar berührt, wovon ja dann ihr Finger dauerhaft vergoldet ist und die gewaltige Angst über sie kommt, die schließlich, nachdem die überaus grausame Jungfrau Maria dem Marienkind dreimal das Kind genommen, nachdem man es deshalb zur Hexe erklärt und auf den Scheiterhaufen gebracht hat, in letzter Sekunde zum rettenden Geständnis führt.
    An dieser Stelle wich Nelly auf empörende Weise von der Vorlage ab. Sie ist schon an den Bettpfosten gebunden, feuerrotes Buntpapier regnet als Flammenmeer auf sie herab, sie brennt also lichterloh, ihr Finger ist immer noch vergoldet, doch schüttelt sie weiter den Kopf: Nein, nein, nein. Ich bin es nicht gewesen! Sie gesteht nicht, wie vorgeschrieben. Bruder Lutz verfällt in einen seiner gefürchteten Jähzornanfälle. Nelly verrenkt ihm, um ihn zu bändigen, den Arm.
    Durch Reue geläutert, nimmt sie am Richtfest teil. Der Rohbau des Hauses steht genau an der Stelle, wo sie vor Jahresfrist die Vorderfront abgeschritten haben. Nelly sitzt auf Brettern, die sich biegen, unter den Maurern, die ihr zeigen, wie man Bier aus der Flasche trinkt, und die zu ihrem Vater »Chef« sagen. Das erste Schuljahr ist auch vorbei, und so schlimm ist es doch wirklich nicht gewesen. Als die Eltern das Zeugnisgelesen haben, sagen sie, sie hätten immer gewußt, daß sie stolz auf ihre Tochter sein könnten.
    Am 1. September 1936 wird der neue Laden eröffnet. Bruno Jordan hat in einem scharfsinnigen Schriftsatz dem Magistrat der Stadt bewiesen, daß »Am Galgenberg« für einen Lebensmittelladen eine geschäftsschädigende Adresse ist, und erhält die Erlaubnis, sich als Anlieger der Soldiner Straße zu betrachten und zu benennen – eben jener heute zu doppelter Spurbreite erweiterten nordwestlichen Ausfallstraße, auf der Nelly die zum Exerzieren, später die ins Feld ausrückenden Kolonnen beider Kasernen hat marschieren, schließlich die Flüchtlingstrecks hat entlangziehen sehen.
    Ein Foto zeigt Bruno und Charlotte Jordan, beide in ihren weißen Ladenmänteln, am Tage der Geschäftseröffnung vor ihrem neuen Haus. Bruno ist neununddreißig, seine Frau Charlotte sechsunddreißig Jahre alt, ihr Leben ist Mühe und Arbeit, und ihre Kinder, beide gesund und wohlgeraten, zählen sieben und vier Jahre. Alle – außer Charlotte – sind nicht daran gewöhnt, Wörter wie »Glück« ohne weiteres in den Mund zu nehmen, oder höchstens in Zusammensetzungen wie Glückssträhne, Glückspilz, Glücksfall und so weiter.
    Nelly aber hat Glück empfunden, als sie an einem strahlend schönen Augustmorgen zum

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