Kindheitsmuster
und Nelly erfährt, wie Baukalk riecht, wie man den Mörtel mischt und wie man auf schräg ansteigenden Brettern balanciert; auch – da war schon Richtfest –, wie man aus einem großen Kessel Würstchen herausfischt: all die Zeit über muß sie den Zauberkorken mit sich herumgetragen haben. Er muß dasein, wenn sie in die Manteltasche faßt. Unter der Schulbank muß sie nach ihm greifen können. Rundum ist er spiralförmig mit kleinen Messingnägelchen beschlagen, und wenn sie einen bestimmten Nagelkopf berührt, ist sie gefeit. Sie hat keine Angst mehr vor Herrn Warsinskis Blick (oder vor seiner Nichtachtung), sie löst jede Rechenaufgabe und kann sich auch gegenüber Gundel behaupten. Zu schweigen, daß der Unterschied zwischen Ding- und Tuwörtern ihr kein Problem aufgibt. Sie ist kein Außenseiter mehr, wenn ihre Hand den Korken umschließt. Das einzige, was man ihm nicht antun darf – er verliert dann seine Wirkung –, ist: ihn verleugnen. Überflüssig wäre er allerdings, wenn es ihr gelänge, Gundel auf ihre Seite zu bringen. Sie spielt ihr den Korken in der Pause zu, so daß sie danach fragen muß und Nelly, ganz gleichmütig, antworten kann: Zauberkorken. Nichts Besonderes.
Das Gerücht verbreitet sich in der Klasse. Der Korken geht von Hand zu Hand. Als es zur Stunde klingelt und Herr Warsinski auch schon in der Tür steht, ist er spurlos verschwunden. Erst viel später blitzt er zwischen Lieselotte Bornows Fingern, als sie wieder malnach vorne gehen und ein Lied singen soll, was sie doch ein für allemal nicht kann. Aber diesmal stellt sie sich einfach hin und singt los, leise zwar noch und zittrig, aber jedenfalls hörbar:
Meine Mu, meine Mu, meine Mutter schickt mich her,
ob der Ku, ob der Ku, ob der Kuchen fertig wär.
Wenn er no, wenn er no, wenn er noch nicht fertig
wär,
käm ich mo, käm ich mo, käm ich morgen wieder her.
Na siehst du. Herr Warsinski hat immer gesagt: Man kann alles, wenn man bloß will. Aber was hast du denn da in der Hand?
Herr Warsinski will es nicht wirklich wissen. Wenn Lieselotte imstande gewesen wäre, den Korken stumm vorzuweisen und ein schuldbewußtes Gesicht zu machen, wäre er zufrieden gewesen, hätte sie ermahnt und den Korken in dem Fach des Klassenpultes eingeschlossen, in dem jegliches Spielzeug verschwand, das nun mal in der Schule nichts zu suchen hatte. Er hatte eigentlich gute Laune. Wenn nur Lieselotte nicht bockig wie immer, behauptet hätte, der Korken gehöre ja gar nicht ihr. – Nicht? Also bitte: Wem denn sonst?
Das ist immer noch leichthin gefragt.
Da fällt Nellys Name
Ach. Dir also? – Der Ton bleibt fast neutral, aber Herr Warsinski hat seine rechte Augenbraue hochgezogen. Das muß Nelly nicht gesehen haben: Die Versuchung ist stark. Sie kann einfach sagen: Ja, das ist mein Korken, und ihn in der Schultasche verschwinden lassen. Herr Warsinski aber wird sie für immerwegen Verspieltheit verachten. Er sagt schon – und es klingt verächtlich – : Dann nimm ihn gefälligst und steck ihn weg, deinen Korken. Vier, fünf aus der Klasse kichern schon. Gleich wird die ganze Klasse über sie lachen.
Da hört sie sich sagen: Nein. Mein Korken ist das nicht. – Ein bedeutsamer Augenblick: Nelly lügt, und sie weiß es und will es.
Übrigens ist es leicht. Es war ganz falsch, zu glauben, daß ein tiefer Graben das Reich der Wahrheit von dem der Lüge trennt. Die Gegend, in der sie sich wiederfindet, ist der früheren zum Verwechseln ähnlich, nur ist das Licht in der früheren Welt anders gewesen. Sie begreift sofort, daß es nur in ihrer Erinnerung weiterleben wird, und hat eine starke, trotzige Sehnsucht nach diesem verlorenen Licht, während sie minutenlang, nicht verstockt, sondern ruhig, ihr NEIN zu wiederholen hat.
Denn nun will der bestürzte Herr Warsinski endlich wissen, was Sache ist.
Man kann böse sein, ohne Reue zu fühlen.
Es ist kinderleicht, man muß nur anfangen und dabei bleiben.
Eine Befragung durch den lieben Gott selbst könnte auch keine andere Antwort hervorbringen.
Wieso erfuhr sie erst jetzt, daß dies der Weg war, ihnen allen überlegen zu sein? Die Gundel verlegen, Herrn Warsinski ratlos zu sehen: Daß eine so lügt in dem Alter, um nichts und wieder nichts – das gibt es doch nicht. Fast bittend fragt er ein letztes Mal: Nicht wahr, er gehört dir wirklich nicht.
Nein.
Nun. Dann werden wir uns um diesen dummen Korken nicht weiter kümmern, und wer ihn haben will, soll es mir in der Pause sagen. Und
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