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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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denn? Es gibt ja noch Götterspeise mit Sahne, und meine Freundin kann dich dann mit ihrem Auto nach Hause fahren.
    O nein. Nelly ist entschlossen zu gehen, und wenn sie, um wegzukommen, ein bißchen unverschämt werden, ein bißchen schwindeln muß, so mag das bedauerlich sein, ist aber nicht zu ändern. Götterspeise, behauptet sie, kriegt sie partout nicht runter, und von Schlagsahne wird ihr regelmäßig schlecht. Leider, leider.Und was das Autofahren betrifft: Mit einer Frau am Steuer fährt sie nun mal nicht, da ist nichts zu machen. Seltsam, seltsam. Also geh schon, wenn du nicht zu halten bist.
    Das tut Nelly. Die Mutter, telefonisch unterrichtet, sieht sie prüfend an, faßt ihr sogar an die Stirn. Fieber hast du nicht etwa? Nein, sagt Nelly. Ich geh da nicht mehr hin.
    Die Mutter schmiert ihr ein Leberwurstbrot. Auf einmal treffen sich ihre Blicke, und sie müssen beide lachen, erst verstohlen, dann platzt es heraus, am Ende schreien sie vor Gelächter, schlagen sich auf die Schenkel, wischen sich mit dem Handrücken die Lachtränen vom Gesicht. Ach du Schwindelmeier, sagt Charlotte Jordan. Na warte, du!
    Nun darf Nelly noch eine halbe Stunde aufbleiben. Bruder Lutz schläft schon, und morgen ist Sonntag. Sie darf sich die Stehlampe im Erker anmachen, darf sich in den runden Klubsessel setzen, der ein Geschenk der Firma »Kathreiner« an den Vater für guten Malz-kaffee-Absatz ist, und sie darf ihr Buch auf das Nähtischchen der Mutter legen. Nebenan ist Besuch: Vaters Freund Leo Siegmann mit seiner Frau Erna. Leo Siegmann hat einen hohen kahlen Schädel und eine Störung in der Luftzirkulation des Nasen-Rachen-Raumes, die ihn zwingt, mehrmals in jeder Minute ein knackendes Geräusch auszustoßen (sich »freizuknacken«, wie Charlotte Jordan sagen kann, die an Leo Siegmann, dem Buchhändler, die Bildung, aber sonst nichts respektiert). Er sitzt dem Führerbild genau gegenüber, das über dem Schreibtisch hängt und das er selbst seinem Freund Bruno Jordan verkauft hat (Format 80 × 60;Halbprofil mit Schirmmütze, der Kragen des Wettermantels hochgeschlagen, den Blick der stahlgrauen Augen in die Ferne gerichtet, hinter ihm ein gräuliches Durcheinander, Gewölk und Gebräu, das den Führer »sturmumtost« zeigen soll und auch zeigt); hinter sich hat Leo Siegmann den neuen hochglanzpolierten Mehrzweckschrank, in dessen Mittelteil noch Bücher fehlen, die Leo Siegmann nach und nach liefern wird. Diesmal hat er »Soll und Haben« gebracht, bloß um mal Klarheit zu schaffen, daß da vor uns einer schon eine ganze Menge übers Geschäft gewußt hat, mein Lieber. Zwei Bände. Die stellen wir neben den »Kampf um Rom«, und für das nächste Mal hab ich was in petto, da frag ich gar nicht erst lange, das muß einfach jeder kennen: »Volk ohne Raum«.
    Wenn Nelly nicht liest, kann sie mühelos dem Gespräch drüben folgen. Erstens: Siegmanns haben eine Rheintour mit KdF gemacht, alte Parteigenossen unter sich, einmalig schön.
    Zweitens: Nationalsozialistische Bildung und Erziehung, weil das Leo Siegmanns Steckenpferd ist. Er ist sehr für die Durchdringung des gesamten Fachunterrichts mit biologischem Denken, was ja nichts anderes heißt, als dem gesunden Volksempfinden die wissenschaftliche Untermauerung zu geben. Was ihn betrifft ... Auf einmal wird das Bild-Gedächtnis ganz scharf, wie die Linse einer Kamera, und verharrt auf einer einzigen Einstellung: Leo Siegmann, leicht vorgebeugt, die Hand am Weinglas, seitlich von der Stehlampe angestrahlt, die auf seinem blanken Schädel Reflexe macht: Was ihn betrifft, hatte er in seiner Klasse – Realgymnasium, Kaiserzeit, wohlgemerkt! – einen Itzig, einen Judenbengel.Woran es eigentlich lag, könnte er bis heute nicht genau sagen. Aber jedenfalls, wenn sie morgens in die Klasse kamen und der Itzig hockte da schon in seiner Bank wie ein nasser Sack, dann mußte jeder erst mal an ihm vorbei und ihm eine reinhaun. Das war Instinkt, da kann einer sagen, was er will. Er roch einfach widerlich, oder was es war.
    Dies war nun – natürlich ganz gegen Leo Siegmanns Absicht – der erste Jude, den Nelly näher kennenlernen sollte. Zuerst stürzte noch die Mutter herein, in voller Fahrt. Abab ins Bett, loslos, keine Widerrede. Hast du etwa zugehört?
    Der Judenjunge. Nelly sah ihn deutlich. Er ist blaß, hat ein spitzes Gesicht, welliges dunkles Haar, ein paar Pickel. Aus irgendeinem Grund trägt er immer Knickerbocker. Hockt da wie ein nasser Sack, und jeder, der

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