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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Einladung, und sie wußte auch,warum: Loris Vater war der einzige Fabrikbesitzer in der Klasse. – Benimm dich, wie du es gewöhnt bist, und red, wie dir der Schnabel gewachsen ist!
    Dann regnete es auch noch, Nieselregen. Nudelfabriken sind unschön, das freute Nelly. Die Villa lag hinter der roten Backsteinfabrik, man ging durch einen gewölbten Mauerbogen. Nelly hätte gerne gewußt, was eine Villa von einem Haus unterscheidet. Der rote Treppenläufer ist mit blitzblanken Messingstangen festgemacht, vielleicht war es das. Und es öffnete ein Mädchen in schwarzem Kleidchen, mit weißem Häubchen und weißem Schürzchen, wie die Kellnerinnen im Café Staege. Loris Mutter erschien. Du bist also die kleine Nelly. Ich habe ja soviel Gutes von dir gehört ... Lori selbst mit aufgedrehten Löckchen, in kariertem Taftkleid mit großer Schleife. Nun, Lori, kümmere dich um deinen Gast. Papa – sie betonte das Wort auf der letzten Silbe – hat angerufen; er wird später zu uns hereinschaun. – Ach, die armen Männer. Arbeitet dein armer Vater auch soviel? – Ziemlich viel, sagte Nelly. Aber meine Mutter arbeitet vielleicht noch mehr. – Köstlich, das Kind.
    Beim warmen Kakao fängt Nellys Nase zu laufen an. Ihre Freundin Hella, die mit schwierigen Lagen leichter fertig wird als sie, bittet höflich, ihr Taschentuch aus dem Mantel holen zu dürfen, und wird beschworen, sich doch um Himmels willen keinen Zwang anzutun. Reizend! sagt Frau Tietz zu ihren Freundinnen, als Hella draußen ist. Jetzt kann Nelly doch nicht auch noch aufstehn. Sie zweifelt auch stark, ob sie das Taschentuch eingesteckt hat, das ihr die Mutter zurechtgelegt hatte. Sie trinkt fünf Tassen Kakao, damit sie ihreNase immer in die Tasse stecken kann. Das freut uns aber wirklich, wie wir deinen Geschmack getroffen haben ...
    Bei der »stillen Post«, die Frau Tietz mit dem schönen Satz: Alle Kinder feiern gerne Geburtstag angefangen hat, gibt Nelly an die Offizierstochter Ursel die Botschaft weiter: Britta und Sylvia sind doof. Ursel, ein Mädchen wie aus Semmelteig, wagt nicht zu verstehen. Hella verkündet am Ende: Komm mit mir auf den Schwof.
    Reizend, sagt Frau Tietz. So ungezwungen, die Kinder heute! Und nun könnt ihr gerne »Hänschen, piepe mal« spielen oder »Mein rechter Platz ist leer ...«.
    Herr Direktor Tietz, der dann wirklich erscheint, ist ein kleiner, fast rundlicher Mann mit dünnem, fadem, zurückgekämmtem Haar und einer gewaltigen dunklen Hornbrille. Nelly hat noch nie einen Mann gesehen, der einen Ring mit einem schwarzen Stein am kleinen Finger trägt, den er abspreizt, während er im Stehen aus einem winzigen Täßchen Kaffee trinkt, den Frau Tietz »Mokka« nennt. Herr Tietz fragt Nelly nach ihren Zensuren und vergleicht sie mit denen seiner Tochter Lori. Er seufzt vorwurfsvoll und kann und kann sich den Unterschied nicht erklären, obwohl die Erklärung kinderleicht ist und Nelly auf der Zunge liegt: Lori ist dumm und faul.
    Die Erkenntnis schlägt ein wie ein Blitz. Tatsächlich: Lori ist einfach dumm, und Herr Warsinski, der es längst gemerkt hat, kann es nur hin und wieder durch einen Blick zu verstehen geben und durch den süßlichen Ausdruck seiner Stimme, wenn er freundlich mit ihr spricht. Aber Dumme verstehen ja Blicke nicht, das istes eben. Sie aber, Nelly, begreift genau, was der Blick bedeutet, den Herr Direktor Tietz mit seiner Frau wechselt, ehe er Nelly vorschlägt, Lori doch ab und an zu besuchen und bei der Gelegenheit gleich ein paar Schularbeiten mit ihr zu machen. Herr und Frau Tietz stellen sich das reizend vor, Kakao gibt es natürlich jedesmal, und anschließend würde man in Loris schönem Kinderzimmer spielen, das Nelly doch gut gefallen hat, nicht wahr? Frau Tietz hat es genau gesehen.
    Da widerfährt Nelly – nicht zum erstenmal, aber selten vorher so deutlich –, daß sie sich in zwei Personen spaltet; die eine der beiden spielt harmlos mit allen zusammen »Der Jude hat ein Schwein geschlacht’, was willste davon haben!«, die andere aber beobachtet sie alle und sich selbst von der Zimmerecke her und durchschaut alles. Die andere sieht: Hier will man etwas von ihr. Man ist berechnend. Man hat sie eingeladen, um ihr etwas zu stehlen, was man auf keine andere Weise bekommen kann.
    Nelly, zu einer Person vereinigt, steht plötzlich im Flur und zieht ihren Mantel an. Ein Griff, mechanisch: Na also. Taschentuch in der linken Tasche. Frau Tietz hat ihre Augen überall. Aber Nellychen, was ist

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